HISTORICAL Band 0264
verführerisch.
Bei dem bloßen Gedanken, welche Wirkung er noch immer auf sie ausübte, schlug ihr Herz schneller. Dabei hatte der Cameron von heute nichts gemein mit ihrer Jugendliebe. Er hatte nichts Kindliches oder Unschuldiges an sich; er war ein erwachsener Mann und unbeschreiblich sinnlich. Die Erinnerung an das, was beinahe geschehen wäre, bewirkte, dass Blair unter dem Plaid plötzlich heiß wurde. Nur die Befürchtung, es könne eine andere Frau in Camerons Leben geben, hatte Blair zur Flucht veranlasst, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Der wachsende Argwohn, Lord Lindsay könnte der unbekannte Wohltäter sein, drohte das harte Urteil über den Mann ins Wanken zu bringen, der die Zerstückelung des Connerybesitzes geduldet und dem Herrenhaus den Namen Lindsay Hall gegeben hatte. Sie musste zugeben, dass er ein hinreißender Mann war, selbst wenn er sich außerhalb des Gesetzes bewegte. Schließlich hatte er ja auch ihr das Herz gestohlen!
Diese Erkenntnis behagte ihr nicht recht. Er kümmerte sich zwar um das Wohlergehen ihrer Freunde, aber was war das für ein Mensch, der die eigenen Landsleute ausplünderte? Und wie konnte er so tun, als bedeutete Blair ihm viel, wenn er vermutlich eine Geliebte hatte? Vielleicht war die Kleiderrechnung, die Blair auf dem Schreibtisch gefunden hatte, mit der Existenz eines Mündels oder einer verarmten Verwandten zu erklären, doch das hielt Blair für nicht wahrscheinlich. Cameron hatte heißes Blut und ein leidenschaftliches Temperament. Das hatten seine Küsse ihr deutlich bewiesen.
Nein, sie konnte seinem Drängen und den eigenen Wünschen nicht nachgeben, solange sie nicht ganz sicher war, dass er es aufrichtig mit ihr meinte. Nur wenn sie die volle Wahrheit kannte, würde sie sich ihm freiwillig schenken. Und dass sie seine wahren Gefühle noch vor Weihnachten in Erfahrung brachte, war sehr unwahrscheinlich. Es war anzunehmen, dass ihr diesmal wohl kein weihnachtlicher Friede beschieden sein würde. Dafür hatte Cameron gesorgt. Bei diesen Überlegungen war es um ihre Festtagsstimmung geschehen. Den Kopf an die abgewetzten Lederpolster gelehnt, überließ sie sich nachdenklich düsteren Vermutungen.
Cameron, Earl of Lindsay, hüllte sich enger in den Mantel, der ihn kaum wärmte, und nahm sich vor, bald ein dickes Schottenplaid zu kaufen. Er sah Miss Duncans Kutsche abfahren und war froh, dass er Blair nicht auf Fergusons Türschwelle begegnet war, während sie beide ihre Weihnachtsgaben ablieferten. Beinahe wäre es zu dieser Begegnung gekommen, hätte er sie nicht im allerletzten Moment vermieden. Es war nicht ratsam, Blair hinter sein Geheimnis kommen zu lassen. Wahrscheinlich hätte ihm das zwar einen Vorteil bei ihr verschafft, doch dickköpfig wollte er, dass sie ihn um seiner selbst willen liebte und nicht, weil er Nächstenliebe übte.
Endlich verschwand der altmodische Wagen um die Straßenecke. Frierend hob der Earl einen prallgefüllten Sack vom Rücken des Grauschimmels, schleppte die schwere Last vor Ian Fergusons Haus und stellte sie vorsichtig ab, um die Flaschen mit Whisky nicht zu zerbrechen, die sich neben einem Beutel Geld und einem großen Schinken darin befanden. Wahrscheinlich machte Ferguson sich wenig aus feinem Räucherschinken, aber er würde ihm über die Feiertage den Magen füllen, und das allein zählte. Schnell lehnte Lord Lindsay den Sack gegen den Türrahmen und schlich verstohlen zu seinem Pferd zurück. Bemüht, möglichst schnell das Weite zu suchen, überhörte er beim Aufsitzen, dass die Tür geöffnet wurde.
Er sah auch nicht, dass der Bauer herausschaute, um nachzusehen, ob Miss Duncan umgekehrt und zurückgekommen sei. Ian Ferguson spähte dem Reiter nach, der in der Dunkelheit verschwand, und bückte sich erst dann, um das Weihnachtsgeschenk aufzuheben. Seinen guten Ohren entging nicht das leise Klirren der Flaschen, und ein breites Grinsen zuckte über sein wettergegerbtes Gesicht. „So also steht es um den Weihnachtsspuk!“, murmelte er sich in den Bart und schleppte den schweren Sack ins Haus. „Eigentlich erstaunt es mich nicht sehr! Seine Lordschaft ist immerhin trotz allem auch Lady Mary Connerys Sohn. Ich habe schon früher gewusst, dass er ein lieber, guter Junge ist.“
Am Heiligen Abend begrüßte Blair Duncan die Nachbarn und betrat die kleine, am Rande des Dorfes gelegene Kirche. Die glücklichen Mienen der Leute erfreuten sie. Die frohen Gesichter legten beredtes Zeugnis davon ab, dass der
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