HISTORICAL Band 0264
etwas Rundes. Eine Taschenuhr! Beim näheren Hinschauen erschrak sie heftig. Lord Haverbrook war seine abhandengekommen! Ohne sich etwas zu denken, steckte sie die Uhr in die Tasche des Kleides und drehte sich um. Vor ihr stand Cameron, Earl of Lindsay, mit sehr verschlafenem Ausdruck. „Mylord, Sie baten mich, bald vorbeizukommen. Es tut mir leid, dass es Ihnen zu früh ist.“ Blair konnte sich nicht vorstellen, wie sie es fertigbrachte, die Stimme ruhig klingen zu lassen. Die gestohlene Uhr brannte ihr in der Tasche. Konnte es sein, dass er der Räuber war? Vielleicht hatte Lord Haverbrook die Uhr hier nur vergessen? Natürlich konnte Blair Lord Lindsay nicht fragen. Eines stand jedenfalls fest. Er war über ihre Anwesenheit ebenso erfreut wie verwirrt.
Fast unbeholfen machte er einen Schritt auf den Schreibtisch zu und wies auf die alten Briefe. „Miss Duncan“, sagte er leise und streckte die Hand nach ihr aus. „Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen.“ Als sie zurückwich, fuhr er schnell fort: „Erstens für mein unverzeihliches Benehmen, vor allem aber dafür, dass ich Ihre Briefe niemals beantwortet habe. Bitte, glauben Sie mir, so sonderbar es auch klingen mag, ich habe sie erst gestern erhalten.“
„Ich bin hier, um die Spenden abzuholen, Mylord, und nicht, weil ich mit Ihnen über persönliche Angelegenheiten sprechen möchte, die längst nicht mehr von Bedeutung sind“, erwiderte sie abweisend und trotzig. Er hatte sie nach Lindsay Hall gelockt, und sie würde nur mit größter Wachsamkeit ungeschoren davonkommen. Sie war entschlossen, sich keine Entschuldigungen anzuhören.
„Selbstverständlich, Madam! Ich bin gern bereit, mich nach Ihren Wünschen zu richten“, sagte er einlenkend, öffnete eine Schublade des Schreibtisches und nahm eine Schatulle heraus. „Ich dachte, es sei angebracht, ein Goldstück in jeden Korb zu legen. Damit hätten die Leute die Möglichkeit, sich etwas zu kaufen, was sie sich am meisten wünschen.“
„Die Menschen hier kennen die Sinnlosigkeit hochfliegender Wünsche. Ihr Leben wird von der Sorge um das Notwendigste bestimmt“, entgegnete Blair scharf und war verblüfft, wie heftig sie auf das wunderbare Geschenk reagierte.
„Sie sagen es. Genügen zwanzig Münzen?“
„Dreißig wären besser.“ Es reizte Blair herauszufinden, wie weit Lord Lindsays schlechtes Gewissen reichte.
„Bitte, Miss Duncan“, sagte der Earl und gab ihr das Geld. „Und kaufen Sie etwas für sich.“
„Nein, danke! Meine Sorge gilt nur den Bedürftigsten. In ihrem Namen weiß ich Ihre Großzügigkeit zu schätzen. Ich hoffe, dass Sie dafür vor dem Zugriff des Diebes verschont bleiben.“
Das schwache Licht machte es unmöglich, zu sehen, ob bei dieser Bemerkung dem Earl die Röte ins Gesicht stieg, und rasch verließ Blair Lindsay Hall. Ihre Vernunft und Gefühle lagen im Widerstreit. Dreißig Goldstücke! Einen solchen Schatz hatte in den vergangenen Jahren kein Schotte zu Gesicht bekommen, schon gar nicht besessen! Versuchte Cameron, die Gewissensbisse zu verdrängen, weil er Glenmuir im Stich gelassen hatte? Wollte er erneut Blairs Gunst gewinnen, nachdem sein erster Versuch misslungen war? Welche andere Ursache konnte es für die unglaubliche Großzügigkeit noch geben? Vielleicht war er tatsächlich der Dieb? Der Gedanke ließ sich nicht abweisen. Wie sonderbar, dass Cameron so sehr daran gelegen gewesen war, Blair von der verfallenen Jagdhütte fernzuhalten! Noch eigenartiger war es freilich, dass sich Lord Haverbrooks Uhr auf seinem Schreibtisch fand.
Es gab nur eine Möglichkeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Blair musste das alte Blockhaus aufsuchen und sich ein wenig umsehen. Sollte es sich dabei wirklich um den Schlupfwinkel des Räubers handeln, musste sie sich überlegen, was weiter geschehen sollte.
Als sie dann vor der Teestunde ein zweites Mal nach Duncan House zurückkehrte, war sie höchst verwundert über die Fülle der Beute in der längst verlassenen Hütte. Ohne jeden Zweifel hatte sie das Versteck des Diebes entdeckt. Selbst die gestohlenen Schafe waren unter den Bäumen angebunden. Trotzdem zögerte sie, den Earl of Lindsay mit dem geheimnisvollen Wohltäter in Zusammenhang zu bringen.
Zugegeben, er hatte alles darangesetzt, sie am Betreten des verfallenen Holzhauses zu hindern. Aber das konnte auch aus Sorge um ihre Sicherheit geschehen sein. Inzwischen neigte sie auch zu der Annahme, dass Lord Haverbrook entgegen seiner Behauptung die
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