HISTORICAL Band 0264
aus der Flasche. Er wollte vergessen, sich nicht an Blair Duncan und den traurigen Ausdruck ihrer blauen Augen erinnern lassen.
Es war noch ziemlich finster, als Blair entschlossen Duncan House verließ, in der Hand eine kleine Laterne. Die Luft war feucht und schwer. Die Leute im Dorf schliefen noch fest. Sie umging Glenmuir und strebte den alten Besitzungen der Connerys zu. Angeregt durch die Einsamkeit der im Raureif schimmernden Felder, wurden Erinnerungen an den uralten Sonnenkult der Menschen dieses Landes, das die meiste Zeit düster und grau verhangen war, wach. Blair hatte sich vorgenommen, bei Sonnenaufgang in Lindsay Hall einzutreffen. Waren auch keine heidnischen Rituale zu erwarten, so würde sie zumindest die Genugtuung haben, Cameron zu äußerst früher Stunde zu stören. Nicht einmal die Dienstboten waren aufgestanden, wie sie feststellen musste. In ihr wärmstes Plaid gehüllt, schlug sie zum vierten Male an die schwere, geschnitzte Eichentür. Endlich wurde geöffnet, und der sichtlich hastig in die Kleider geschlüpfte Butler starrte die Besucherin fassungslos an.
„Miss Duncan? Seine Lordschaft ist noch nicht wach, und auch das Personal schläft noch“, sagte er unüberhörbar tadelnd. „Es ist kaum erst sechs Uhr!“
„Ich habe keine Zeit für Faulpelze. Mylord hatte mich gebeten, so schnell wie möglich herzukommen, und nun bin ich da“, erwiderte Miss Duncan und machte Anstalten, die Halle zu betreten. „Wollen Sie mich nicht ins Haus bitten, ehe Sie mich Lord Lindsay melden? Ich werde gewiss nicht das Tafelsilber stehlen!“
„Natürlich nicht, Miss Duncan. Soll ich Ihnen Tee machen lassen? Seine Lordschaft liebt es ganz und gar nicht, wenn man ihn so früh weckt.“
„Ich kann auf seine Gewohnheiten leider keine Rücksicht nehmen! Gehen Sie endlich, und sagen Sie ihm, dass ich gekommen bin! Oder erwarten Sie etwa, dass ich es tue?“
„Nein, selbstverständlich nicht, Miss Duncan! Das wäre Mylord nicht recht“, entgegnete Williamson entsetzt. „Wenn Sie in seinem Arbeitszimmer warten wollen? Hier entlang bitte!“
Cameron Montgomery, Earl of Lindsay, war einen Moment später ebenso entgeistert wie sein Butler. „Miss Duncan ist hier? Jetzt?“
„Ja, Sir. Sie ist in Ihrem Arbeitszimmer.“
„Unfassbar!“ Warum, in aller Welt, war sie derart früh gekommen? Natürlich! Er hatte sie gebeten, so bald wie möglich zu erscheinen, und sie hatte es wörtlich genommen. Er lachte schallend auf, und der plötzliche Heiterkeitsausbruch verwirrte Williamson noch mehr als der unziemlich frühe Besuch. Er wich zurück und überlegte, ob er nicht Hilfe holen solle.
„Schon gut, Williamson, bring mir meine Sachen, aber schnell! Ich kann eine Dame nicht warten lassen“, befahl der Earl und grinste von einem Ohr zum anderen. So hatte er Blair Duncan in Erinnerung, als Kobold, unverschämt und eigensinnig, der jemanden zum Wahnsinn treiben und schon im nächsten Augenblick den Eindruck eines Engels erwecken konnte. Bei aller Freude, dass sie nun doch zu ihm gekommen war, fragte sich Cameron, welche Art Blair ihn wohl erwartete. Blair schaute sich in dem Raum mit der ausgeprägt männlichen Note um, und das Bündel Papiere auf dem Schreibtisch entging ihr nicht. Neugierig trat sie näher und erkannte verblüfft ihre Briefe, die sie Cameron vor mehr als zehn Jahren geschrieben hatte. Dem Jüngling waren sie keine Antwort wert gewesen, aber er hatte sie aufbewahrt, um sie als Mann nun wieder zu lesen! Nicht gesonnen, das Rätsel um Cameron zu lösen, schob Blair die Briefe beiseite und blätterte in den anderen Unterlagen.
Sie hatte es ja gewusst. Sie fand eine Rechnung, ausgestellt von Miss Eloises Modesalon in der Regent Street. Offensichtlich hatte sie Cameron unrecht getan. Das grüne Seidenkleid war nicht für eine Miss Eloise bestimmt, sondern von ihr angefertigt worden. Wem aber gehörte es? Nach der Rechnung zu urteilen, hätte Cameron in London ein ganzes Heer von Damen ausstaffieren können, mindestens eine für jeden Tag der Woche, besser noch, für jede Nacht. Kein Wunder, dass er nun länger in den Highlands bleiben musste! Wahrscheinlich tat ihm eine Ruhepause ebenso not wie seinem Geldbeutel. Aber wenn er es sich leisten konnte, zu allen möglichen Frauen großzügig zu sein, konnte er ruhig mehr für Glenmuir tun. Genau das gedachte Blair ihm jetzt offen zu sagen.
Schritte auf der Treppe schreckten sie auf. Hastig legte sie die Rechnung zurück und stieß dabei an
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