HISTORICAL Band 0264
helfen. Und jetzt litten und starben womöglich Kinder, weil kein Geld für Medizin da war. Sally konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihnen etwas zustieß.
Sie hob den Brief vom Boden auf und ging wieder nach oben. Fieberhaft überlegte sie, wie sie das nötige Geld auftreiben konnte. Von der Bank konnte sie sich nichts mehr leihen, es sei denn, sie nahm eine Hypothek auf das Haus auf, und das war ihr zutiefst zuwider. Es gab ein paar Leute, die sie eventuell ansprechen konnte – Gregory Holt zum Beispiel, einen der Investoren des Clubs und einen alten Freund der Familie. Er hatte ihr stets seine Schulter zum Ausweinen angeboten, aber Sally wusste, dass er mehr als nur Freundschaft von ihr erhoffte, und wollte nicht in seiner Schuld stehen. Jack konnte sie nicht fragen. Schließlich kannte sie ihn kaum, und das würde ihrer Beziehung ein ganz anderes Gewicht verleihen. Sie war fest entschlossen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren.
Im Vorbeigehen klopfte sie an Connies Tür, aber niemand antwortete. Sie blieb stehen, öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinein. Das Bett war unberührt. Erneut seufzend ging sie zurück in ihr eigenes Zimmer und läutete nach der Zofe, die ihr den Tee servieren sollte. Plötzlich schien der Tag nicht mehr so hell und vielversprechend. Ihr war klar, sie musste eine Lösung für Nells Probleme finden, und zwar schnell. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
„Und wie findest du es?“, fragte Jack. Er beobachtete Sallys Gesicht und wartete auf ihre Reaktion. Sie hatten im vornehmen Restaurant der Franco-British-Exhibition zu Abend gegessen, der großen internationalen Ausstellung in White City, und nun schwebten sie in der Gondel eines Riesenrads gut sechzig Meter über der Erde. Unter ihnen breiteten sich die weißen Stuckgebäude der Exhibition aus wie eine verwunschene, im Mondschein glitzernde Welt. Der Wasserfall wurde von tausend bunten Laternen illuminiert, deren Licht sich in allen Regenbogenfarben auf dem Wasser des kleinen Sees spiegelte. Sally seufzte selig auf, und Jack erkannte überrascht, wie sehr es ihm gefiel, sie glücklich zu sehen.
„Es ist sehr, sehr schön.“ Sie drehte sich lächelnd zu ihm um. „Und völlig verrückt von dir, so viel Geld zu bezahlen, nur damit wir die Gondel für uns allein haben.“
Jack zuckte die Achseln. „Ich wollte diese Erfahrung eben nur mit dir allein machen.“
Sally drehte sich wieder nach vorn, stützte die Ellenbogen auf den Gondelrand und sah auf die Lichter der Hauptstadt. „Es heißt, bei klarem Wetter könne man bis Windsor sehen“, sagte sie. „Wir waren am Tag der Eröffnung hier. Es war ein fürchterliches Gedränge. Ich hatte meine Schwester Nell und ihre Kinder mitgenommen.“ Sie lachte. „Connie weigerte sich mitzukommen; sie sagte, es wäre zwar der letzte Schrei, sich hier sehen zu lassen, aber für sie wären zu viele gewöhnliche Menschen auf der Ausstellung. Ihr ist einiges entgangen, wir hatten sehr viel Spaß.“
Jack wunderte sich nicht über diesen Einblick in Connie Bowes’ Charakter. Je mehr er über sie erfuhr, desto unterschiedlicher kamen ihm die beiden Schwestern vor. Er hatte jemanden den ganzen Tag nach Connie und seinem Cousin Bertie Ausschau halten lassen, nachdem Sally ihm am Morgen eine Nachricht gesendet hatte, dass Connie in der Nacht nicht nach Hause gekommen wäre. Er wusste nicht genau, wer von den beiden ihn gereizter machte – Bertie, der seiner Familie so großen Kummer machte zu einer Zeit, in der sein Vater schwer erkrankt war, oder Connie, die ohne Zweifel hoffte, den Hauptgewinn zu ziehen.
Alles in allem war es ein unbefriedigender Tag gewesen. Jack war es nicht gewohnt, bei geschäftlichen Treffen mit den Gedanken anderswo zu sein. Grund dafür war die Frau, die jetzt neben ihm stand und die Aussicht bewunderte. Den ganzen Tag lang hatte seine Konzentrationsfähigkeit sehr zu wünschen übrig gelassen. Er hatte jede Menge Arbeit, die seine ganze Aufmerksamkeit erforderte, musste viele dringende Entscheidungen fällen und hatte einen übervollen Terminkalender. Er jedoch hatte lieber mit Sally Bowes die Ausstellung besuchen wollen, anstatt an diesem Abend zu dem eigentlich vorgesehenen Geschäftsessen zu gehen. Langsam zweifelte er an seinem Verstand.
Es hatte ihn vollkommen aufgewühlt, als er am Morgen aufgewacht war und gemerkt hatte, wie sehr es ihm widerstrebte, Sallys Bett zu verlassen. Das Bedürfnis, bei ihr zu bleiben, war so überwältigend
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