HISTORICAL Band 0264
die Tür auch nur einen Spalt öffnete und ihren Gefühlen Zutritt gewährte, so befürchtete sie, würde die Liebe sie überwältigen. Und das wiederum würde Jack nicht wollen.
In der vergangenen Nacht hatte sie Lust nicht mit Liebe verwechselt. Sie mochte zwar unerfahren sein – zugegeben, mittlerweile nicht mehr ganz so unerfahren –, aber sie war kein leicht zu beeindruckendes junges Mädchen mehr. Sie wusste, dass Jack sie ebenso leidenschaftlich begehrt hatte wie sie ihn, aber gleichzeitig war ihr klar, dass sie für ihn nur eine Affäre war. Trotzdem konnte sie sich nicht helfen, sie verspürte bereits sämtliche Alarmzeichen – das Herzklopfen bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, diese seltsame Atemlosigkeit, die nicht nur mit dem körperlichen Liebesakt zu tun hatte, und die reine Freude an seiner Gesellschaft. Sie musste sehr vorsichtig und vernünftig sein, denn Jack wollte ihre Liebe mit Sicherheit nicht, und sie wollte nicht, dass er ihr das Herz brach …
Gähnend stieg sie die Treppe hinunter in den Eingangsbereich. Sie liebte die frühen Morgenstunden, wenn es ganz still im Haus war und sie das Gefühl hatte, es gehörte nur ihr allein. An diesem Morgen schienen ihre Sinne geschärfter als sonst; sie nahm den schweren Lavendel- und Bienenwachsduft der Möbelpolitur war, sie sah, wie das frühe Sonnenlicht die warmen Holzfarben zum Leuchten brachte, und hörte das Rollen der Kutschen draußen auf der Straße. Der Strand schien niemals zu schlafen. Selbst um diese Uhrzeit waren schon das Rumpeln der Räder und laute Stimmen zu vernehmen. Aber hier im Haus gab es kein anderes Geräusch als das Plätschern des kleinen Wasserfalls im Atrium, der zwischen Palmenwedeln und kühlen Marmorstatuen glitzerte.
Auf der Fußmatte vor der Tür lag ein Brief. Er musste irgendwann letzte Nacht von einem Boten zugestellt worden sein. Sally erkannte die Handschrift ihrer Schwester Petronella auf dem Umschlag. Sie hob ihn auf und setzte sich auf die Treppe, um den Brief zu lesen.
Bitte, liebe Sally, bitte, bitte hilf mir! Clarrie und Anne sind im Holloway Gefängnis, weil sie sich geweigert ha ben, ihre Geldstrafen zu zahlen, und jetzt sind ihre Fa milien völlig mittellos und wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Ich brauche Geld für Lebensmittel, Un terkunft und Medizin. Meine eigenen Kleinen sind krank und haben Fieber. Wenn Du mir zweihundert Pfund lei hen könntest …
Sallys Wohlbefinden löste sich schlagartig auf, und sie las den Brief langsam ein zweites Mal. Zweihundert Pfund … Der Briefbogen glitt ihr aus den Fingern. Zweihundert Pfund waren ein Vermögen, davon konnte man ein Haus kaufen oder problemlos eine ganze Familie ein Jahr lang unterhalten. Sie wusste jedoch, wie sündhaft teuer Medizin war und dass sich ein Fieber in den überfüllten Mietshäusern rasend schnell wie Feuer ausbreiten und eine Schneise der Verwüstung hinterlassen konnte. Ihr war auch klar, dass Nell sie nicht um Geld bitten würde, wenn sie nicht vollkommen verzweifelt war. Genau wie Sally war auch Nell zu stolz, Almosen anzunehmen; sie war fest entschlossen, selbst Geld zu verdienen.
Sally lehnte den Kopf an das Treppengeländer und schloss die Augen. Sie hatte keine zweihundert Pfund. Bei der Renovierung des Blue Parrot hatte sie ihr ganzes Vermögen eingesetzt und sich sogar verschuldet. Trotzdem hatte sie sich immer um Nell und Connie gekümmert und ihnen zu helfen versucht, so gut sie nur konnte. Das war ein Teil des Abkommens, das sie nach dem Tod ihres Vaters mit sich selbst geschlossen hatte. Sie dachte an Nells Kampf um ihr tägliches Brot und an die Kinder anderer Frauen, wenn die Männer tot waren oder sie verlassen hatten. Ihre Kehle schnürte sich zu vor Mitleid und Kummer.
Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn Du mir nicht hel fen kannst, hatte Nell geschrieben. Ich muss selbst eine Geld strafe wegen Landfriedensbruchs zahlen. Manchmal denke ich, es ist das alles nicht wert, und doch kann ich dem Prinzip der Suffragettenbewegung und des Frauenwahlrechts nicht abschwören. Wenn ich mich zwischen den Suffragetten und der Tatsache entscheiden soll, dass Lucy und George Hunger leiden müssen, dann weiß ich mir keinen Rat. Bitte hilf mir, Sally. Du bist meine einzige Hoffnung.
Sally seufzte. Sie unterstützte die Frauenbewegung nicht durch militante Aktionen wie Nell, und sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie sich zwar für Politik interessierte, aber so wenig tat, um ihrer Schwester zu
Weitere Kostenlose Bücher