HISTORICAL Band 0264
zornig aussah, doch sobald sein Blick auf sie fiel, runzelte er die Stirn.
„Jack, es ist beschlossene Sache“, fing Charley an. „Ihr bleibt über Nacht hier.“
„Nein“, erwiderte Jack.
Das ist ziemlich unmissverständlich, dachte Sally. Er wollte nicht, dass sie mit seiner Familie und seinen Freunden in Kontakt kam. Außerdem war sie sich sicher, dass er Berties Indiskretion mit Connie nicht weiter publik machen wollte, schon gar nicht, wenn die Situation vielleicht noch gerettet werden konnte.
„Wenn Sie sich wieder einigermaßen erholt haben, Miss Bowes“, fügte er kalt hinzu, „werden wir unsere Reise fortsetzen.“
„Jack …“ Doch Charley verstummte überraschenderweise, als Stephen kaum merklich den Kopf schüttelte. Es herrschte ein betretenes Schweigen, bis jemand plötzlich energisch an die Haustür klopfte. Ein Lakai eilte herbei, um zu öffnen. Patterson, der offensichtlich dadurch abgelenkt gewesen war, dass er die Szene in der Halle belauscht hatte, zupfte seine Handschuhe zurecht und beeilte sich, den Neuankömmling anzukündigen.
„Lady Ottoline Kestrel!“
Sally sah, wie Jack erstarrte. Seine Miene war vollkommen entsetzt. „Du hast doch gesagt, Tante Otto käme später!“, zischte er seiner Schwester aus dem Mundwinkel zu.
„Jetzt ist später!“, zischte Charley zurück. „Das ist doch nicht meine Schuld! Reg sie nicht auf, Jack, sie ist in letzter Zeit ziemlich gebrechlich!“
„Mir kommt sie nicht sehr gebrechlich vor“, murmelte Jack grimmig.
Sally beobachtete Lady Ottoline Kestrels zierliche, mit Juwelen behängte Gestalt, als ihre Zofe ihr in die Halle half. Sie war zwar dünn und feingliedrig wie ein kleiner Vogel und bewegte sich etwas steif, aber dennoch hatte sie eine starke, unbezwingbare Ausstrahlung. Ihre Augen, genauso dunkelbraun wie die von Jack und seiner Schwester, wirkten jung und scharfsichtig. Natürlich hatte sie viele Falten im Gesicht, dennoch glaubte Sally, den gleichen anmutigen Knochenbau wie bei Charlotte erkennen zu können. Lady Ottoline musste in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein. Jetzt allerdings wirkte sie nur noch einschüchternd, und man konnte in ihr unmöglich das reizende Mädchen wiedererkennen, dessen Porträt Sally in der Wallace Collection bewundert hatte. Straußen- und Fasanenfedern wippten von ihrem großen Hut, und ihr Mantel war mit passenden Federn besetzt.
„Mein Gott, wie viele Vögel müssen für Tante Otto ihr Leben gelassen haben!“, flüsterte Charley wenig respektvoll, ehe sie auf die Tante zueilte und die Stimme hob. „Großtante Otto! Wie schön, dich zu sehen!“
Lady Ottoline bot ihrer Großnichte hoheitsvoll die Wange zum Kuss. „Wie geht es dir, Charlotte? Und gehört dir etwa dieses grässliche neumodische Ungetüm da draußen, Jack? Ich wusste gar nicht, dass du auch hier bist, aber ich freue mich, dich wiederzusehen, Junge. Wir konnten mit der Kutsche wegen dieser Höllenmaschine gar nicht bis zur Tür vorfahren – die Pferde wurden scheu!“
„Ich bitte um Entschuldigung.“ Wie seine Schwester beugte er sich zu seiner Großtante herab und küsste sie. „Ich werde den Wagen sofort wegfahren.“
„Tu das“, stimmte Lady Ottoline zu. „Und wenn du schon dabei bist, bring doch gleich meine Taschen mit. Severs ist zu alt, mein Gepäck zu tragen.“
Wenn der Kutscher genauso uralt war wie die Zofe, dann wunderte Sally sich sehr, dass die drei überhaupt noch irgendwohin reisen konnten. Aber Lady Ottoline war trotz aller körperlichen Gebrechlichkeit geistig noch vollkommen klar. Ihr scharfer Blick fiel auf Sally.
„Und das ist …?“ Ihr Tonfall war eisig.
Jack und Charlotte wechselten einen Blick.
„Guten Tag, Mylady“, sagte Sally freundlich. „Mein Name ist Sally Bowes …“
„Und sie ist meine Verlobte“,vollendete Jack ihren Satz. Er nahm ihre Hand und drückte sie schmerzhaft fest, um Sallys Protest zu ersticken. „Ich bitte um Verzeihung, dass ich euch nicht ordentlich miteinander bekannt gemacht habe“, fuhr Jack fort. „In der Aufregung über deine Ankunft habe ich das ganz vergessen. Sally, Liebling , das ist meine Großtante, Lady Ottoline Kestrel“, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
„Du hast deine Verlobte vergessen, hm?“ Lady Ottoline betrachtete prüfend Sallys errötetes Gesicht, und ihre Miene wurde etwas weicher. „Gut, gut, Jack. Du überraschst mich. Einen Moment lang dachte ich, du hättest eine deiner Mätressen zu
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