HISTORICAL Band 0264
manchmal gewesen war. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Charlotte sie mitfühlend ansah. „Ich fühle mich für sie verantwortlich. Nell – meine Schwester Petronella – unterstützt aktiv die Suffragettenbewegung. Sie ist Witwe und völlig mittellos.“ Sie biss sich auf die Zunge, ehe sie mit der ganzen Geschichte von Nells Schulden und ihrer eigenen Verzweiflung herausplatzen konnte. Charlottes warme Art war so tröstlich nach Jacks Verachtung, dass Sally befürchtete, ihr schon nach nur zehn Minuten Bekanntschaft ihr ganzes Herz auszuschütten.
„Und Ihre Schwester Connie?“, beharrte Charlotte. „Diejenige, die mit meinem Cousin durchgebrannt ist?“
„Ach, Connie.“ Sally schüttelte den Kopf. „Nun, man könnte wohl sagen, dass Connie ihren eigenen Kopf hat. Sie arbeitet in meinem Spielclub am Strand, Mrs. Harrington.“ Sie verzog niedergeschlagen das Gesicht. „Jetzt verstehen Sie wohl, warum sowohl Lord Basset als auch Ihr Bruder sie für keine gute Partie für Bertie halten und glauben, ich hätte meine Hände mit in diesem unschönen Spiel.“
„Onkel Toby war schon immer ein Langweiler“, meinte Charlotte wegwerfend. „Aber von Jack hätte ich mehr erwartet.“ Sie runzelte die Stirn. „Eigentlich ist er kein Snob.“
Sally seufzte. „Wenn er glaubte, dass Connies Absichten ehrlich wären, hätte er vielleicht mehr Verständnis. Aber …“, sie sah Charlotte ganz offen in die Augen, „… ich fürchte, er hält sie für eine Mitgiftjägerin. Ihr Verhalten spricht sicherlich dafür, daher ist es kein Wunder.“
„Nun ja, aber das ist kein Grund, von Ihnen auch so zu denken, Miss Bowes, und das werde ich ihm sagen!“, empörte Charlotte sich. „Er kann schrecklich kalt und selbstgerecht sein. Das ist einer seiner schlimmsten Fehler – obwohl es eine ganze Reihe anderer gibt, aus denen man auswählen kann!“ Sie lächelte Sally freundlich an. „Bitte, nennen Sie mich Charley, Miss Bowes, und ich hoffe, ich darf dann Sally zu Ihnen sagen. Ich mag Formalität nicht so gern.“
„Natürlich!“ Sally war einigermaßen überwältigt. Jacks Schwester war wie eine Naturgewalt – nicht aufzuhalten. „Ich würde mich sehr freuen.“
„Das wäre dann also geregelt.“ Sie bedachte den Butler mit einem strahlenden Lächeln, als er mit dem Teetablett eintrat. „Vielen Dank, Patterson. Wären Sie wohl so gut, Mrs. Bell auszurichten, sie möge zwei weitere Gästezimmer herrichten? Mr. Kestrel und Miss Bowes bleiben über Nacht.“
„Ich bewundere Sie wegen Ihrer Zuversicht“, gestand Sally.
Charley lachte. Sie rührte so ungestüm in ihrem Tee, dass dieser auf das Tablett und den Teller mit Buttergebäck spritzte. Der Butler verzog schmerzerfüllt, aber auch gleichzeitig resigniert das Gesicht, als ob sich solche Zwischenfälle jeden Tag ereigneten. Einer der schwarzen Labradors kam an den Tisch und erbarmte sich der feuchten Kekse.
„Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Schwester Connie“, bat Charley, nachdem Patterson gegangen war. „Wenn sie willensstark ist, könnte sie genau die Richtige für Bertie sein. Ich denke, es würde sich äußerst günstig auf ihn auswirken, wenn er eine starke, kluge Frau heiratete. Er ist ziemlich schwach und leicht beeinflussbar, er braucht eine strenge Führung, wie so viele Männer.“
Sally lächelte und bezweifelte, dass Stephen Harrington eine strenge Führung brauchte. So war er ihr eigentlich nicht vorgekommen. „Sie sind sehr großmütig, Charley, aber ich glaube nicht, dass Connie die richtige Frau für Ihren Cousin ist.“ Sie dachte an die Erpressung und seufzte. „Ihr Bruder hat zweifelsohne recht mit seiner Einschätzung. Ich habe selbst den Verdacht, dass Connie nur auf Mr. Bassets Geld aus ist.“
„Nun, das werden wir ja sehen.“ Charley reckte kampfeslustig das Kinn. „Aber wenn Bertie und Connie sich aufrichtig lieben, dann werde ich sie unterstützen, so gut ich kann! Zumindest sollte es ihnen selbst überlassen bleiben, die Dinge ins Reine zu bringen. Ich verstehe einfach nicht, warum Jack Sie in diesen Schlammassel mit hineingezogen hat, Sally.“
„Ich habe mich eher selbst mit hineingezogen“, gab Sally zu. „Ich wollte sichergehen, dass es Connie gut geht und ihr nichts passiert.“
„Ich vermute, Jack fungiert in dieser Geschichte als Onkel Tobys Unterhändler“, sagte Charley und reichte Sally ihre Teetasse, „und das Thema Familienehre ist ihm gehörig zu Kopf gestiegen.“ Sie schmunzelte verschmitzt.
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