HISTORICAL Band 0272
Nachricht mit bewundernswerter Gelassenheit entgegen. „Was immer Sie wünschen. Also zurück nach London.“
Die Abreise erfolgte erst am Nachmittag des folgenden Tages, und das aus verschiedenen Gründen. Zum einen lag ihr am Herzen, anwesend zu sein, wenn Freddie die Burg neu entdeckte, insbesondere den mittelalterlichen Teil. Zum anderen wollte sie sich vergewissern, das Philippe sich wirklich wieder völlig erholt hatte. Aber es gab noch einen dritten Grund. Sie wollte dieselbe Route nehmen wie damals mit Jack, und da sie nicht viel zu früh im ersten Gasthaus Rast machen wollte, musste sie ihre Abreise ohnehin hinauszögern. Sie hatte sich jedoch noch nicht überlegt, wie sie auf der weiter im Norden gelegenen Strecke verfahren würde. Hier hatte sie die Nächte mit Jack unter freiem Himmel verbracht – aber damit wollte sie sich erst befassen, wenn es so weit war.
Gegen sechs Uhr abends, noch vor Sonnenuntergang, hielt der einigermaßen erstaunte Kutscher auf Wunsch der Großherzogin an einem bescheidenen Gasthof an.
Der Wirt begrüßte sie freundlich und blinzelte verwirrt, die Dame so bald wiederzusehen, nunmehr mit einer stattlichen Dienerschaft, allerdings ohne ihren Ehemann. Auch diesmal erkannte er die Großherzogin nicht, versicherte ihr jedoch, er könne ihr selbstverständlich das gleiche Zimmer wie beim letzten Mal anbieten, dennoch sei es bedauerlich, dass der werte Herr Gemahl sie nicht begleiten könne. Er erwarte erst in zwei Tagen eine größere Jagdgesellschaft, deshalb sei die Unterkunft frei. Er werde dafür sorgen, dass man sogleich ein Feuer im Kamin im Nebenraum der Schankstube anmache, denn es würde nach Regen aussehen und der Abend könnte kühl werden.
Der versprochene Regen ließ nicht lange auf sich warten. Keineswegs war es ein sanfter Sommerregen, es goss in Strömen. Eigentlich war es ein richtiges Unwetter, das ihr die Nacht in Belgien vor der großen Schlacht ins Gedächtnis rief. Damals hatten Jack und sie in einem halb verfallenen Schuppen Zuflucht gefunden und im Stroh genächtigt, und Jacks Arme hatten sie gewärmt. Diesmal hatte sie ein Dach über dem Kopf, saß in der holzgetäfelten Stube, die mit bäuerlichen Möbeln eingerichtet war. Auf dem Kaminsims standen bunt bemalte Gefäße aus Steingut, für diese Handwerkskunst war Maubourg berühmt. Neben den Krügen, Kannen und Schüsseln entdeckte sie sogar einen Krug mit dem Porträt des großherzoglichen Brautpaars, der wohl anlässlich ihrer Vermählung in Auftrag gegeben worden war. Gottlob war zwischen ihr und dem Bildnis auf dem Gefäß keine Ähnlichkeit zu erkennen. Louis hingegen war gut getroffen, sein schönes markantes Profil war dem nichtssagenden Gesicht seiner Braut zugewandt. Sie sah jung, unerfahren und naiv aus – und Eva hatte sich damals mühelos zu einer ergebenen Ehefrau formen lassen, genau wie Louis es sich vorgestellt hatte. Eva trat an den Kamin und drehte den Gedenkkrug um, bis das Hochzeitsporträt zur Wand wies und das Wappen von Maubourg zu betrachten war. Das war besser. Sie war eine andere Frau geworden.
Das knisternde Feuer im Kamin tauchte den gemütlichen Raum in ein rötlich flackerndes Licht. Die Vorhänge aus grobem Leinen waren zugezogen, und die Stimmen der männlichen Gäste in der Schankstube drangen gedämpft an ihr Ohr. Hier war sie allein, aber nicht einsam – und konnte in Ruhe über Jack nachdenken. Diesmal musste sie es richtig machen. Im Zimmer im ersten Stock wartete das Bett auf sie, das sie geteilt hatten. Sie wollte den Erinnerungen an ihre erste gemeinsame Nacht nachhängen, bis sich die nötige Bettschwere einstellte. Jene erste Nacht – mit einem Kopfkeil zwischen ihnen.
Eva lächelte. Was würde Jack wohl denken, wenn er wüsste, dass sie die gemeinsame Reise durch Frankreich noch einmal unternahm? Würde er ihr Vorhaben belächeln oder ihre Sehnsucht begreifen, jene glücklichen Tage wieder aufleben zu lassen?
Der Regen prasselte gegen die Fenster. Eva hatte beinahe das Gefühl, das kleine Gasthaus sei ein Schiff auf hoher See, das den aufgepeitschten Elementen trotzte. Wenn der Regen nicht aufhörte, würde sie die Reise morgen nicht fortsetzen. Es wäre unverantwortlich, auf Bergstraßen, die sich in Sturzbäche verwandeln konnten, das Leben der Männer und Pferde aufs Spiel zu setzen. Seltsamerweise beunruhigte sie diese eventuelle Verzögerung nicht im Geringsten. Sie hatte einen Entschluss gefasst, ihre Reise zu Jack war ihr vom Schicksal auferlegt
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