HISTORICAL Band 0272
perfekten englischen Gentleman erziehen zu lassen.“ Eva war damit beschäftigt, die Dinge für die lange Reise zu ordnen. Ihre Bücher steckte sie in die Seitenfächer der Kutschentüren, die Schatulle mit den kleinen Schachfiguren legte sie neben sich auf die Bank, zusammen mit ihrer Petit-Point-Stickerei. Auf dem Platz neben Freddie befanden sich Spielkarten, diverse andere Dinge und ein längliches Stück Holz, das er gerade mit einem Schnitzmesser bearbeitete. Zu guter Letzt gab es noch eine Mappe mit Schulbüchern und Heften, auf deren Mitnahme Herr Hoffmeister bestanden hatte, wobei Eva befürchtete, dass diese während der Ferien geschlossen blieb. Der Privatlehrer hatte sich für die Dauer von Freddies Aufenthalt in Maubourg beurlauben lassen, zur kaum verhohlenen Freude ihres Sohnes.
„Wieso ließ Papa mich eigentlich nie in den Ferien nach Hause kommen?“ Freddie bohrte weiter.
„Weil er eben einen echten Engländer aus dir machen wollte“, erklärte Eva. „Als erwachsener Mann verfügst du dadurch über wichtige diplomatische Beziehungen, zumal dein Englisch dann wirklich perfekt ist.“ Das war bereits jetzt der Fall. Mutter und Sohn sprachen allerdings wieder in einer Mischung aus Französisch und der Mundart von Maubourg, da Eva nicht wollte, dass ihr Sohn nach Hause kam und wie ein Ausländer klang.
„Du hast mir gefehlt.“
„Du hast mir auch gefehlt, mein Schatz.“ Sie verdrängte den nagenden Verdacht, Louis habe den Wunsch gehabt, ihren Sohn mit weniger weiblichem Einfluss aufwachsen zu lassen. Vielleicht hatte er aber auch seine Zweifel daran gehabt, ob es die richtige Wahl war, eine Halbfranzösin geheiratet zu haben, gerade nachdem Napoleons Einfluss wieder im Wachsen begriffen war. Was immer ihn zu dieser Entscheidung bewogen haben mochte, eine plausible Erklärung war er Eva schuldig geblieben. Für ihn waren die Tränen seiner Gemahlin Beweis genug, dass Frédéric in einem englischen Internat besser aufgehoben war. „Aber da du nun schon älter bist, hätte Papa gewiss gewünscht, dass du die Ferien in Maubourg verbringst.“
Freddie nickte nachdenklich. „Und nun kann ich von Onkel Philippe lernen, wie ich ein richtiger Großherzog werde.“
„Ja, mein Sohn.“ Eva lächelte, und sein kleines Gesicht verschwamm hinter ihrem Tränenschleier. Gestern Nacht, inmitten der Wirren ihrer überstürzten Abreise, hatte sie keine Gelegenheit gefunden, die Tränen zu vergießen, die ihr das Herz so schwer machten. Erst als sie völlig erschöpft ins Bett gesunken war, durfte sie weinen – um Jack und um ihr Glück, das sie unwiederbringlich verloren hatte.
„Onkel Philippe ist ein guter Regent, nicht wahr?“
„Ja, das ist er.“
„Aber er weiß nichts über körperliche Übungen und Abenteuer und so was, stimmt’s?“
„Nein. Ich glaube, dafür interessiert er sich nicht.“ Ihr Schwager war der Gelehrte in der Familie.
„Ich wünsche mir, dass du Mr. Ryder doch noch heiratest“, sagte Freddie versonnen.
„Freddie! Wie kommst du denn auf so etwas?“
„Ich dachte, du liebst ihn. Du warst so traurig, als er ging, ohne sich zu verabschieden. Und mir ist aufgefallen, wie er dich angesehen hat. Auch wenn ich nicht besonders viel über diese Dinge weiß“, erklärte ihr neunjähriger Sohn altklug, während sie ihn fassungslos anstarrte. „Aber ich kann erkennen, wenn zwei Menschen einander sehr gern haben. Ich verstehe gar nicht, wieso er dich nicht gebeten hat, ihn zu heiraten.“
„Vermutlich, weil ich eine Großherzogin bin“, entgegnete Eva schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
Freddie nickte. „Daran habe ich auch gedacht. Aber er ist doch der Sohn eines englischen Dukes, nicht wahr? Einer meiner Schulfreunde in Eton hat ihn erkannt und es mir erzählt. Du warst ja ziemlich lange nicht in England“, fuhr er mit großem Ernst fort, „aber er stammt aus einer sehr angesehenen Familie, absolut akzeptabel. Meinst du, ich soll ihm schreiben und ihm die Erlaubnis erteilen?“
„Freddie!“
„Es ist eine schwierige Frage der Etikette“, fuhr ihr Sohn grübelnd fort, dem der entsetzte Gesichtsausdruck seiner Mutter offenbar entgangen war. „Ich werde Onkel Petz fragen, was ich tun soll. Mr. Ryder ist schließlich viel älter als ich.“
„Zwanzig Jahre“, sagte Eva schwach.
„Immerhin alt genug, um ein echter Vater zu sein, aber auch jung genug, um Spaß mit ihm zu haben“, stellte der kleine Großherzog ernsthaft fest. „Also eigentlich genau der
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