HISTORICAL Band 0272
Suppe“, wies Susanna ihn zurecht und musterte die Schüsseln. „Wie schön, Snively hat sie in eine Tasse füllen lassen. Dann muss ich dich nicht füttern. Hier, nimm“, sagte sie und reichte ihm eine Porzellantasse, bevor sie den nächsten Deckel lüpfte.
„Igitt! Das ist ja grün!“, sagte James angewidert und reichte ihr die Tasse zurück.
Susanna starrte die Suppe an. „Natürlich! Es ist Erbsensuppe. Nahrhaft und kräftigend. Genau das Richtige für einen Genesenden wie dich. Trink schon.“
Der Schotte verschränkte die Arme vor der Brust und weigerte sich, ihr die Tasse abzunehmen. „Ich hasse Erbsensuppe! Ich will von dem Roastbeef! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie hungrig ich bin?“
Susanna überlegte sich, ob es sich lohnte, sich wegen der Suppe mit ihm zu streiten. Schließlich entschied sie, dass es dies nicht wert war. Wenn er unvernünftig sein wollte, bitte. Sie schnitt ihm eine Scheibe Brot ab, tunkte sie in Bratensoße und legte es auf einen der Teller. Mahnend hob sie den Zeigefinger: „Ich will keine Klagen hören, wenn dir nachher der Magen wehtut!“
James griff nach dem Teller, schlang die Scheibe hinunter und leckte sich die Fingerspitzen ab. Was für schockierende Manieren, dachte Susanna, während sie sich selbst eine Scheibe vom Braten abschnitt. Bevor sie sich auftun konnte, hielt James ihr seinen Teller hin. Widerwillig legte sie die Bratenscheibe darauf.
„Mehr“, meinte James entschieden. „Und bitte auch von den Karotten und Zwiebeln.“
Verärgert schnitt sie ihm weitere Scheiben vom Roastbeef ab. „Benutze doch wenigstens Besteck zum Essen“, sagte sie und reichte ihm ihre Gabel.
Er lächelte sie an. Gebannt von diesem Lächeln sah Susanna ihm dabei zu, wie er im Nullkommanichts alles in sich hineingeschaufelt hatte, was auf dem Teller gelegen hatte, und ihr den Teller mit erwartungsvollem Blick zurückreichte.
„Noch mehr?“, fragte sie seufzend.
Schneller, als sie es für möglich gehalten hätte, hatte er ihr gesamtes Abendessen verzehrt. Für Susanna blieb lediglich ein kleines Brötchen und die inzwischen kalte Erbsensuppe übrig. James legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme vor dem Bauch und schloss die Augen. Im Nu war er eingeschlafen.
Wie jung er aussieht, wenn er schläft, dachte Susanna, die dieser Anblick rührte. Seine Haut war unglaublich zart und von der Sommersonne leicht gebräunt. Sie warf einen Blick auf die kleine Schramme an seiner rechten Hand, die mittlerweile fast abgeheilt war. Obwohl schwielig und muskulös, waren seine Hände sonst wunderschön geformt. Künstlerhände, dachte sie, während sie seine langen Finger mit ihren ebenmäßigen ovalen Fingernägeln betrachtete.
Unter James’ Werkzeug hatte sie eine kleine Skulptur gefunden. Sie hatte sie nur kurz betrachten müssen und gewusst, dass er eine unglaubliche Begabung besitzen musste, wenn er so etwas schaffen konnte. Mit dieser bemerkenswerten Arbeit hatte er die Chance, berühmt zu werden. Susanna hatte Snively daher mit dem Stück zur Galerie Le Coeur d’Ecosse in der Halpern Street geschickt. Bislang hatte sie noch nichts vom Inhaber der Galerie, Monsieur Aubert, gehört. Ob er schon Zeit gefunden hatte, ihren Wert zu schätzen und sie möglichen Käufern zu zeigen? Nicht, dass sie dieses einzigartige Meisterwerk verkaufen wollte – sie hatte Snively aufgetragen, das von Anfang an klarzustellen. Dennoch wollte sie das Ihre dazu tun, dass das außerordentliche Talent des Schotten bekannt wurde. Wie merkwürdig, dass er die Statue nur mit einem „G“ im Sockel signiert hatte. Schämte er sich seiner Urheberschaft? Dabei musste ihn die Skulptur einige Zeit beschäftigt haben: Sie hatte einige Skizzen dazu in seinen Büchern entdeckt.
Erneut musterte sie seine Hände neugierig. Wie sich diese Finger wohl auf ihrer Haut anfühlen würden? Irgendwann würde sie ihm erlauben müssen, sie anzufassen. Sie hatte es James versprochen. Der Gedanke daran erzeugte bei ihr ein Gefühl des Unwohlseins. Susanna wollte besser nicht weiter über ihre gemeinsame Zukunft nachgrübeln. Sie erhob sich und verließ das Zimmer.
Ihr Magen knurrte. James hat mein Abendbrot gegessen. Warum habe ich das zugelassen? Susanna fragte sich, ob sie sich nicht überschätzt hatte – oder ihn unterschätzt. Es würde sicher mehr Kraft kosten, als sie erwartet hatte, sich ihn gefügig zu machen. Denn für den Rest ihrer Zeit in Edinburgh würde der Schotte nicht bewusstlos im Bett
Weitere Kostenlose Bücher