HISTORICAL Band 0272
wohl schon an die dreißig Jahre alt sein musste, wirkte er wie ein Siebenjähriger.
„Hast du mir etwas mitgebracht, James?“, fragte er mit kindlich hoher Stimme.
James griff in die Tasche seines Mantels und zog einen runden Kiesel daraus hervor, der etwa halb so groß war wie seine Faust. „Der da ist für dich, Junge. Das ist ein Stein von einem Bach bei Stirling. Du weißt doch, wo Wallace an der Brücke die Longshanks so vernichtend schlug, dass sie bis Lunnon davonrannten. 1297 war das, Orvie. Überleg mal, 1297, vor fast sechshundert Jahren!“, sagte er mit betont geheimnisvoller Stimme.
Orvie machte große Augen. „Danke“, sagte er und drehte den Stein ehrfürchtig zwischen den Fingern. Plötzlich schlug er mit den Fingern gegen die Tür. „Ich will raus.“
James ließ den Wagen halten, dann sah er zu, wie Orvie ungeschickt aus der Kutsche kletterte und lauthals singend die Straße entlanglief. Den Stein hielt er dabei in die Höhe als wäre er eine Reliquie.
„Du solltest dich schämen, James“, sagte Susanna tadelnd. „Solche Lügengeschichten zu erzählen! Du hast den Stein bei unserem letzten Halt aufgehoben, nicht in der Nähe der Stirling Bridge. Ich habe es selbst gesehen!“
„Mag sein. Aber ich will Orvie ja nur ein wenig Geschichte beibringen. Er wird jedem erzählen, was ich gesagt habe, und sich das alles dadurch merken.“
Sie biss sich auf ihre Oberlippe.
„Bedauere den Jungen nicht zu sehr“, warnte James. „Er ist nicht dumm, nur kindlich geblieben. Wenn du ihn bedauerst, dann nutzt er dich aus.“
Liebevoll sah Susanna zu ihm auf. „Es ist wundervoll, dass du dir so viel Mühe gibst, deine Leute zu unterrichten – vor allem jemanden wie ihn.“
„Oh, Orvie gehört nicht zu meinen Leuten, sondern zu deinen“, stellte James klar.
„Er ist aus Drevers?“
„Ja.“
„Ich bin für ihn verantwortlich?“
„Er ist in Drevers geboren. Aber er gehört zu uns allen.“ James war über Susannas Mitgefühl erfreut. Aber Frauen hatten ja bekanntlich ein Herz für Kinder, Kranke und kleine Tiere. Was würde passieren, wenn sie seine Clansleute traf? Er schluckte. Es war seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sie sich in ihre Gesellschaft einfügte.
Susanna strahlte ihn an. Sie fühlte sich nach dem Zusammentreffen mit dem armen Orvie sehr viel besser. Solch ein Verhalten hätte sie von James nicht erwartet. Nun, das stimmte nicht ganz. Auch ihr gegenüber war James stets sehr rücksichtsvoll gewesen. Allerdings hatte sie stets geargwöhnt, dass das aus männlicher Überheblichkeit heraus geschah. Unter all seinem herrischen Gehabe verbargen sich tatsächlich tiefe Empfindungen.
Glücklicherweise war James auch schnell darüber hinweggekommen, dass sie ohne sein Wissen Geld ausgegeben hatte. Das überraschte sie noch mehr als die Tatsache, dass er sie wegen ihrer Eigenmacht weder angebrüllt noch geschlagen hatte. Die meisten Männer hätten wohl sehr viel unbeherrschter reagiert. Mittlerweile schien er ihr eigenmächtiges Verhalten sogar schon wieder vergessen zu haben. Er war ihr ein Rätsel.
Die Kutsche hielt erneut – dieses Mal endgültig. Susanna wandte ihren Blick von James ab und sah durch das Fenster auf die Mauern von Galioch. Sie blickte nach oben. Das Gebäude, vor dem sie sich befanden, wirkte primitiv und abweisend. Es bestand aus zwei mächtigen, durch ein schmales Gebäude miteinander verbundenen Türmen, die jeweils vier Stockwerke hoch waren. Schmale Fenster prägten die Fassade, die Türme waren mit Zinnen bewehrt. Für eine Burg war das Gebäude recht klein.
Um die Mauern herum waren irgendwann Bäume und Buchsbaumhecken gepflanzt worden, die nun völlig verwildert waren. Bunte Blumen blühten hier und dort. Sie bildeten die einzigen Farbtupfer vor den graugelben Außenmauern und wirkten so fremd in dieser Heidelandschaft, wie es schottischer Stechginster auf einer der Rasenflächen ihres Vaters täte. Es ist alles so fremdartig hier, dachte Susanna bedrückt.
Mittlerweile hatte James die Kutsche verlassen. „Willkommen in Galioch“, meinte er förmlich, während er darauf zu warten schien, dass sie aus der Kutsche stieg. Sein Highland Dialekt war ausnahmsweise kaum zu hören.
„Ich bin froh, dass wir endlich da sind“, erwiderte Susanna tapfer, glättete ihre Röcke und rückte ihren Hut zurecht. „Wo ist die Dienerschaft?“
Sie hatte nicht erwartet, dass das Personal am Rande der Auffahrt stand, aber dass überhaupt niemand zu sehen
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