HISTORICAL Band 0272
mich entschuldigen. Gleich geht es weiter. Henry wird in den nächsten Stunden bei Ihnen sitzen.“
Nachdem die Kutsche unter heftigen Hammerschlägen eine Weile hin und her geschaukelt wurde, kletterte der Diener ins Wageninnere und zog den Hut. „Ich bitte um Vergebung für die Störung, Ma’am.“
„Keine Ursache.“ Es fiel ihr nicht schwer, mit wortkargen einfachen Leuten zu reden. „Arbeiten Sie schon lange als Kutscher, Henry?“
„Ich bin Kammerdiener, Ma’am. Das ist jedenfalls meine offizielle Bezeichnung. Aber meistens tue ich das, was der Meister von mir verlangt. Kommt drauf an, welchen Auftrag wir gerade zu erledigen haben.“
So wortkarg ist der Mann gar nicht, das könnte sich als nützlich erweisen, dachte Eva. „Aber zu Hause in London sind Sie sein Kammerdiener, oder?“
„Ja, Ma’am. Wenn der Meister er selbst ist, das kommt allerdings nicht so oft vor.“
„Das ist gewiss nicht einfach für seine Familie“, hakte Eva im Plauderton nach. „Beispielsweise für seine Ehefrau.“ Hatte er nicht behauptet, er sei nicht verheiratet? „Oder für seine Eltern.“
„Das wäre wohl so, wenn er eine Ehefrau hätte. Was seinen Herrn Vater angeht, der war ein aufgeblasener feiner Pinkel, dem man nichts recht machen konnte. Aber mein Herr hätte nicht viel auf seine Meinung gegeben, wenn er noch leben würde. Was jedoch nicht der Fall ist.“
Das brachte sie nicht sehr viel weiter. Immerhin, Jack Ryder war nicht verheiratet, und ein aufgeblasener feiner Pinkel als Vater ließ den Schluss zu, dass er aus einer respektablen Familie stammte. Die seltsame Wortwahl – „wenn der Meister er selbst ist“ – könnte darauf hinweisen, dass er ein Doppelleben führte. Und London war offenbar die Stadt, in der er lebte. Wer mochte dieser Mann nur sein?
„Wir haben eben das östliche Stadttor passiert“, stellte Henry fest. „In etwa einer Stunde erreichen wir eine gemütliche Herberge. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich nach einem Bett sehnen.“
„Wissen Sie denn schon, wo wir die Nacht bleiben?“
„Aber ja, Ma’am. Der Meister überlässt nichts dem Zufall. Auf der Reise nach Maubourg hat er Zimmer bestellt, und der Wirt erwartet uns zu später Stunde, also werden wir keinen Verdacht erwecken. Es handelt sich um ein gut geführtes Gasthaus, das gern von Jagdgesellschaften aus der Gegend aufgesucht wird. Um diese Jahreszeit ist dort kaum etwas los.“
Eva lehnte sich in die Polster zurück und schwieg. Henry fühlte sich von ihrer Gegenwart keineswegs eingeschüchtert, es war also nicht nötig, ihm die Scheu zu nehmen. Es tat irgendwie gut, zu wissen, dass sie keinerlei Verpflichtungen hatte. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, dieses Abenteuer zu überleben und in England wohlbehalten anzukommen.
„Ma’am!“ Eva fuhr erschrocken auf und stellte fest, dass die Kutsche angehalten hatte. Licht drang ins Wageninnere. „Sie haben ein wenig gedöst, Ma’am“, erklärte Henry hilfreich.
„Ja, danke, Henry“, murmelte Eva benommen. Du meine Güte, welchen Eindruck machte sie wohl in ihrem zerknitterten Kleid, dem schmutzigen Umhang und ihrem unfrisierten Haar. Sie strich sich fahrig die vielen Locken nach hinten und zog die Kapuze tief ins Gesicht. Zumindest hatte sie die Gewissheit, dass der Gastwirt in der ungepflegten und erschöpften Reisenden nicht die Großherzogin vermuten würde. Sie musste nur darauf achten, keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Jack öffnete den Wagenschlag und half ihr beim Aussteigen, während der Wirt herbeieilte.
„Willkommen, meine Herrschaften, in meinem bescheidenen Haus! Treten Sie bitte ein“, begrüßte er die Ankömmlinge herzlich. Die Pferde wurden nun ausgespannt und in den Stall geführt. Henry brachte in dieser Zeit das Gepäck in den Flur und verschwand anschließend in der Schankstube. Der Wirt fuhr mit seiner Ansprache fort: „Das Zimmer für den gnädigen Herrn ist vorbereitet, wie Sie es befohlen haben. Das Bett ist frisch bezogen, und ich bin sicher, Ihre Frau Gemahlin wird sich bei uns wohlfühlen.“
Der Mann führte seine beiden Gäste eine schmale Holzstiege nach oben. Eva blieb auf der ersten Stufe stehen. Ihre Schläfrigkeit war auf einmal wie weggeblasen. „Zimmer? Frau Gemahlin? In welchem Zimmer schlafen Sie?“
„In unserem.“ Jack nahm sie beim Ellbogen und führte sie mit sanftem Druck die Stiege hinauf. Es blieb ihr keine andere Wahl, als ihm zu folgen. „Vielen Dank.“ Oben angekommen,
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