HISTORICAL Band 0272
Damit gewinnen wir einen gewissen Vorsprung.“
Eva trat vor ihm ins Freie und redete ununterbrochen in einem Plauderton auf ihn ein, triviale Höflichkeiten, die sie sich in langjähriger Übung während ermüdender diplomatischer Empfänge und Gesellschaften angeeignet hatte. Der Pförtner war aus seinem Häuschen getreten und wartete bereits. „Ah, da sind Sie ja, Georges. Wir gehen wieder. Tut mir leid, Sie zu so später Stunde bemüht zu haben. Geht es Ihrer Tochter besser? Ja? Ausgezeichnet.“
Jack reichte dem alten Mann die Laterne; sein Blick folgte der Großherzogin, die den Hof mit der Würde und Anmut einer Ballkönigin überquerte. Ihr Haar hatte sich nun endgültig gelöst und fiel ihr in langen Wellen über die Schultern, wobei ihr Gesicht immer noch erhitzt war. Der Saum ihres Kleides zeigte Spuren von Dreck, und der staubige zerknitterte Umhang sah aus, als hätten die Hunde darauf geschlafen. Das brachte ihn auf eine Idee.
„Vielen Dank.“ Jack drückte dem alten Pförtner eine Goldmünze in die knorrige Hand und dämpfte die Stimme. „Ihre Königliche Hoheit kann gewiss auf Ihre Diskretion zählen.“ Der Mann schaute mit wässrigen Augen zu ihm auf, und dann blinzelte er, als er begriff. Heftig nickte er.
„Gott segne Ihre Königliche Hoheit. Sie hat es wahrlich verdient, einen Beschützer zu haben.“
Jack zwinkerte ihm vertraulich zu, bevor er Eva mit schnellen Schritten eingeholt hatte, die linke Hand auf die Dokumente in seiner Brusttasche gepresst.
Eva ließ sich in die Kutsche helfen und sank in die Polster zurück. „Diese verräterische kleine Ratte! Philippe erleidet einen Rückschlag, wenn er von Antoines üblen Machenschaften erfährt. Uns mit Bonaparte zu verbünden, ist bereits Hochverrat, aber ihm auch noch neue Waffen in die Hände zu spielen, ist ein unverzeihliches Verbrechen.“
Da die Manufaktur nun hinter ihnen lag, begann ihr erst das ganze Ausmaß des eben gemachten Fundes bewusst zu werden. Eben noch war ihr alles als ein großes Abenteuer erschienen, es war aufregend gewesen, mit Mr. Ryder in die eigenen Laboratorien einzubrechen. Außerdem hatte er etwas in ihr zum Leben erweckt, das lange unterdrückt gewesen war: ein unglaubliches Glücksgefühl, dem sie keinen Platz in ihrem Innern einräumen durfte. Denn bei all dem ging es um eine äußerst ernste Angelegenheit.
„Wird Ihr Trick mit der eingeklemmten Türklinke unsere Verfolger lange aufhalten, Mr. Ryder?“
„Eine Weile. Man wird einen Handwerker holen, zunächst aber keinen Verdacht schöpfen, dass an dem Schloss manipuliert wurde. Der Mann wird allerdings sehr schnell herausfinden, dass ein Stück Eisen die Ursache für das Problem ist, und dann wird man die Tür aufbrechen.“ Jack klang nachdenklich. „Das wird etwas dauern, da die schwere Tür vermutlich mit einer Eisenplatte verstärkt ist. Man wird die eigenen Vorsichtsmaßnahmen verfluchen, bis man sich endlich Zutritt in den Raum verschaffen kann.“
„Und man wird Georges befragen, wer die Räume betreten hat, und er wird Auskunft geben, da kein Grund besteht, warum er darüber schweigen sollte. Ich hätte mit ihm reden müssen.“ Eva ärgerte sich, nicht daran gedacht zu haben. „Wobei ich jedoch keine Ahnung habe, was ich ihm hätte erklären sollen, ohne seine Neugier und seinen Argwohn zu wecken.“
„Ich könnte mir denken, der gute Mann wird darüber schweigen.“ Etwas in Jack Ryders Stimme machte sie stutzig.
„Wieso?“, fragte sie misstrauisch. „Was haben Sie ihm gesagt?“
„Nichts von Belang. Ich gab ihm etwas Trinkgeld und sagte, dass ich mit seiner Diskretion rechne.“
„Und wieso sollte er denken, diese sei nötig?“ Eva strich sich nervös eine Locke nach hinten, die sich an ihrer Wange kringelte, wobei sie feststellte, dass ihre Haut sich erhitzt und feucht anfühlte. Und dann entsann sie sich, dass ihr achtlos in die Ecke geworfener Umhang zerknittert und schmutzig war.
„Gütiger Himmel! Ich betrete nach Einbruch der Dunkelheit mit einem fremden Mann die Manufaktur, verlasse sie eine Stunde später wieder, zerzaust und in einem unordentlichen Umhang, und mein Begleiter bittet den Pförtner um Verschwiegenheit“, sagte sie gedehnt, als hätte sie beim Sprechen erst ihre Gedanken gesammelt. „Georges denkt … Sie haben ihn darin bestärkt, zu vermuten, dass wir etwas Anstößiges getan haben!“ Die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens traf sie wie ein Keulenschlag und drehte ihr beinahe den Magen um.
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