HISTORICAL Band 0272
einzupacken. Sie warf es mit einem Seufzer über den Wandschirm, danach wühlte sie weiter in ihrer Tasche. Oh nein!
„Mr. Ryder.“ In diesem Tonfall pflegte sie auf Verstöße gegen das Hofprotokoll hinzuweisen, was normalerweise eine umgehende unterwürfige Aufmerksamkeit seitens der angesprochenen Person zur Folge hatte.
„Ja?“ Seine Stimme klang gedämpft und unbeteiligt. Eva schoss ein Bild von ihm durch den Kopf, wie er sich gerade das Hemd über den Kopf zog. Sie drehte sich jäh zur Wand, um nicht der Versuchung zu erliegen, verstohlen durch die Ritzen der Holzpaneele zu spähen wie ein neugieriges Zimmermädchen.
„Als Sie in der Burg meine Unterwäsche aus der Tasche rissen, haben Sie mir offenbar auch mein Nachthemd weggenommen. Was soll ich nun zur Nacht anziehen? Können Sie mir das bitte sagen?“ Wäre sie nicht so aufgebracht gewesen, hätte sie ihre Worte sorgfältiger gewählt. Ihrer entrüsteten Beschwerde folgte ein ausgedehntes Schweigen. Der Unhold lacht über mich, dachte sie erzürnt. Im gleichen Moment flog ein weißes Hemd über den Schirm.
„Nehmen Sie ein Hemd von mir.“
„Davon haben Sie wohl reichlich eingepackt, wie ich annehme?“
„Natürlich. Ich musste mich schließlich auf eine lange Reise einstellen.“ Er lachte tatsächlich. Grollend entkleidete sie sich, danach wusch sie sich hastig und zog das Hemd an, das ihr bis knapp über die Knie reichte. Sie stülpte die viel zu langen Ärmel ein paar Mal um und zog zum Schluss die Nadeln aus ihrem Haar. Wenigstens hatte er ihr die Bürste gelassen.
Die gleichmäßigen Bürstenstriche übten eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Nachdem sie das ihrer Gewohnheit folgend hundertmal praktiziert hatte, war sie beinahe versucht, weitere hundert hinzuzufügen. Doch schließlich entschied sie sich, den Nackenzopf für die Nacht zu flechten. „Wo sind Sie, Mr. Ryder?“
„Im Bett.“
„Dann schließen Sie die Augen.“
„Gut. Meine Augen sind geschlossen. Löschen Sie freundlicherweise die Kerzen?“
Mit einem vorsichtigen Blick überzeugte sie sich davon, dass Jack tatsächlich im Bett lag und wie versprochen die Augen geschlossen hielt. Er hatte die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und sie konnte nicht ahnen, was oder ob er überhaupt etwas anhatte. Das Polster in der Mitte des Bettes bewies, dass er es mit der Grenze zwischen ihnen ernst meinte.
Eva wagte sich hinter dem Schirm hervor und widerstand dem Wunsch, hastig die Kerzen zu löschen und flugs ins Bett zu springen. Sie überwand ihre Scheu, pustete eine Kerze nach der anderen aus, ohne übertriebene Eile, und tastete sich in der Dunkelheit zum Bett. Sie schlüpfte unter die Decke und zog sie sich bis zum Kinn hoch.
„Gute Nacht, Eva.“
Nicht mehr Ma’am, damit war es vorbei. Wenigstens solange sie unterwegs und in Gefahr waren. Ein seltsam befreiender Gedanke. „Gute Nacht“,entgegnete sie kühl. Seinen Vornamen setzte sie in Gedanken hinzu. War das wirklich befreiend oder einfach nur gefährlich? Das Hofprotokoll war eine Zwangsjacke, aber auch ein schützender Panzer, hinter den sie sich jederzeit zurückziehen konnte. Dieses Abenteuer lieferte sie einer gedanklichen Intimität mit einem wildfremden Mann aus, die mindestens ebenso bedrohlich war wie seine körperliche Nähe.
Sie war erschöpft und hoffte, sofort einzuschlafen, sobald sie die Augen zumachte. Das Bett war bequem und sauber, und das Polster gab ihr die nötige Sicherheit. Sie musste nicht befürchten, dass sie den Mann an ihrer Seite nachts versehentlich berührte. Sie vertraute ihm, und im Grunde genommen war es kein Unterschied, ob er auf dem Fußboden oder neben ihr im Bett schlief – wenigstens redete sie sich das ein.
Und warum konnte sie dennoch nicht schlafen? Eva schloss die Augen, versuchte sich zu entspannen, zählte Schafe von eins bis hundert, deklinierte unregelmäßige italienische Verben. Vergeblich.
War er schon eingeschlafen? Mit höchster Konzentration horchte sie auf seine regelmäßigen Atemzüge. Plötzlich schien er sich umzudrehen, und sie glaubte ein leises Stöhnen zu hören, doch dann setzte der gleichmäßige Rhythmus seines Atems wieder ein. Jack gehörte offensichtlich zu jenen Menschen, die immer und überall schlafen konnten. Blieb nur zu hoffen, dass er bei drohender Gefahr ebenso rasch aufwachte.
Eva versuchte den Reisegefährten aus ihren Überlegungen zu verscheuchen. Das gelang ihr, indem sie ihre Gedanken zu ihrem Sohn wandern ließ, und bald
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