HISTORICAL Band 0272
mittelalterlichen Burg, die tanzenden Schatten der Fackeln gaukelten ihr Gestalten vor, die durch die Gewölbe huschten. Die Sarkophage und das Wissen um die Gebeine, die darin ruhten. Schaudernd wischte sie die Gedanken beiseite. „Ich verstehe, was Sie meinen, es ist nicht ratsam, sich seine Ängste bildlich vorzustellen. Sagen Sie mir lieber, wie ich dazu beitragen kann, um uns vor Unheil zu bewahren.“
„Tun Sie stets das, was ich Ihnen sage, und zwar umgehend und ohne Fragen zu stellen.“
Eva blinzelte verdutzt. Im Stillen hatte sie gehofft, er würde ihr eine Pistole aushändigen und sie im Umgang mit der Waffe unterweisen. Oder ihr zeigen, wie sie einem Angreifer einen Prügel über den Kopf schlagen sollte – oder wie sie sich in irgendeiner anderen Form zur Wehr setzen könnte. „Das war eine ausgesprochen hochfahrende Antwort, Mr. Ryder.“
„Wollen Sie mit mir darüber debattieren? Und nennen Sie mich Jack.“
„Ja, ich will mit Ihnen darüber debattieren, Jack “, entgegnete sie. „Denn was ist, wenn ich nicht mit dem einverstanden bin, was Sie von mir verlangen?“
„Dann debattieren wir darüber, und der Gegner nutzt in dieser Zeit die Situation schamlos aus. Oder ich versetze Ihnen einen gezielten Schlag gegen Ihr hübsches Kinn und tue das, was ich für richtig finde.“
„Mein … was hat mein Kinn damit zu tun?“
„Mit einem Kinnhaken setze ich Sie in einer Krise außer Gefecht.“ Er schien seine gute Laune wiedergefunden zu haben. „Henry und ich verschnüren Ihre bewusstlose Königliche Hoheit dann zu einem handlichen Bündel, und anschließend setzen wir unsere Flucht fort, wobei Henry Sie wie einen Sack Kartoffeln auf der Schulter tragen wird.“ Diesmal erreichte das Lächeln seine Augen, und der Kranz feiner Fältchen, der sichtbar wurde, ließen ihn ungemein attraktiv erscheinen.
„In Maubourg erwartet jeden, der ein Mitglied der großherzoglichen Familie tätlich angreift, die Todesstrafe“, erläuterte Eva. Mal sehen, was Sie davon halten, eine Henkersschlinge um den Hals zu haben, Mr. Ryder!
„Wie gut, dass wir die Grenzen von Maubourg längst überschritten haben werden, falls es dazu kommen sollte.“ Sie schwiegen beide. Eva blickte aus dem linken Fenster der Kutsche, Jack aus dem rechten, seine Lippen zu einem lautlosen Pfeifton geschürzt.
Bald bog die Kutsche schwankend von der holprigen Nebenstraße ab, und danach verlief die Reise weniger schaukelnd. Eva verdrängte die Vorstellung, wie Mr. Ryder in Ketten zum Galgen geschleppt wurde, die ihr ein gewisses Maß an Genugtuung verschaffte, und konzentrierte sich auf die vorbeiziehende Landschaft. Sie hatten die Poststraße nach Grenoble erreicht.
„Haben Sie vor, die ganze Strecke bis nach Brüssel zu schmollen?“, fragte Jack nach einer Weile.
„Ich schmolle nicht. Ich habe lediglich keine Lust, mich mit einem impertinenten Mann, wie Sie es sind, zu unterhalten.“
„Verstehe. Ich entschuldige mich für meine Bemerkung über Ihr Kinn.“
„Und für welchen Teil Ihrer Bemerkung? Die Drohung, mich zu schlagen?“
„Nein, sondern dafür, dass ich mir eine unpassende persönliche Bemerkung erlaubt habe.“
„Hat Ihnen noch nie jemand gesagt, wie unerträglich …“ Das Geräusch eines lauten Schlages auf das Wagendach unterbrach sie. Ein Warnzeichen von Henry.
„Verdammt!“ Jack fuhr hoch. „Das bedeutet nichts Gutes. Wir erreichen die Grenze. Sind die Landesübergänge hier normalerweise bewacht? Bei der Einreise wurden wir nicht überprüft.“
„Nein. Unsere Armee ist zu klein, um überall Posten aufzustellen. Was sollen wir tun?“ Jack hatte gewiss einen Plan, falls sie kontrolliert wurden. Eva machte sich darauf gefasst, dass Henry die Pferde antrieb und die Kutsche im vollen Galopp jedes Hindernis durchbrechen würde.
Jack aber stand breitbeinig im Wagen, um das Gleichgewicht zu halten, als Henry die Pferde zügelte und die Kutsche langsamer fuhr. Verwirrt beobachtete Eva, wie er unter die Sitzbank griff. Sie hörte ein Klicken, die Bank klappte hoch, und darunter wurde ein rechteckiger Hohlraum sichtbar. Jack warf ihre Reisetasche in diesen hinein, dann forderte er: „Sie müssen sich verstecken. Keine Sorge, es gibt Luftlöcher.“
„Nein!“ Eine dunkle Höhle gleichsam wie ein schwarzer Sarg starrte ihr entgegen. Eva spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Rede nie über Albträume, dann werden sie wahr. Ihr Gesichtsfeld wurde von grauen Schleiern eingeengt. In den Ecken
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