HISTORICAL Band 0272
hineinkriechen zu müssen – zweifellos wegen ihrer Angst vor Spinnen, wie sie ihm gestanden hatte.
Jack löste die Verriegelung, hob den Deckel des Verstecks und erschrak zutiefst. Einen Moment lang hielt er sie für tot. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Lider geschlossen, an ihren über der Brust gefalteten Händen klebte Blut. Dann flatterten ihre Lider auf, sie starrte aus glasig verschwommenen Augen ins Leere, als habe sie eine Schreckensvision. „Nein“, flüsterte sie fast tonlos. „Nein! Louis – lass sie nicht zu mir!“
7. KAPITEL
„Eva.“ Ein dunkler Schatten türmte sich bedrohlich über sie auf. Er war gekommen, sie hatte es gewusst, genau wie sie es befürchtet hatte. Der Schatten beugte sich über sie und nahm sie an den Schultern. Sie stieß einen erstickten Laut aus, und Schwindel übermannte sie.
„Eva, wachen Sie auf.“ Der modrige Staub stieg ihr in die Nase, der Geruch des Sarges, aus dem sie gehoben und auf einen Schoß gesetzt wurde. Aber der männliche Körper, der sie umfing, war warm, lebendig, kraftvoll, nicht kalt und tot.
Jack platzierte sie auf seinen Beinen, um sie besser halten zu können. „Es ist alles gut, wir sind in Sicherheit, außer uns ist niemand hier.“ Jack? Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Eine Hand streichelte ihre Wange, fand die Spuren ihrer halb getrockneten Tränen. Sehnige Finger aus Fleisch und Blut tasteten über ihre Haut, es war nicht die Berührung eines kalten Skeletts. Sie kam mit einem tiefen und stockenden Atemzug wieder zu Bewusstsein. „Eva, Sie sind in Sicherheit“, sagte die Stimme.
„Oh, mein Gott. Oh, Jack.“ Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust.
„Fühlen Sie sich besser?“ Er hob ihr Kinn, um ihr ins Gesicht sehen zu können. „Sie haben mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt. Was war denn los?“
„Es tut mir leid.“ Sie versuchte sich aufzurichten, aber er ließ es nicht zu. „Es war nur … es ist mein schlimmster Albtraum. Ein Traum, der mich immer wieder heimsucht.“ Zugleich dachte sie: Ich bin wach, ich bin in Sicherheit. Jack hat mich beschützt. Er hat mich erlöst.
„Sprechen Sie darüber“, ermunterte er sie.
Sie hatte mit keinem Menschen je darüber geredet. Durfte sie es jetzt tun? Durfte sie diese Schwäche gestehen? „Bald nachdem Louis mich auf die Burg gebracht hatte, führte er mich in die Gewölbe im mittelalterlichen Trakt, direkt unter der Kapelle, um mir die Familiengruft zu zeigen. Anfangs fand ich das aufregend und spannend wie in einem Schauerroman – die gewundenen Steinstufen, die flackernden Fackeln, ich achtete nicht darauf, wohin er mich brachte. Doch dann war da dieser Geruch – das war das Erste, was ein Frösteln bei mir auslöste. Dieser modrig faulige Geruch nach Verwesung. Louis hatte keine Laterne mitgenommen, nur eine lodernde Fackel, die groteske Schatten auf die Säulen und die Wände der Gewölbe warf. Schließlich öffnete er eine schwere Tür – Kammern wurden sichtbar, die sich endlos unter der Burg hinzogen, und noch einmal tauchten Gewölbe und Säulen auf.“
Zunächst hatte sie angenommen, er würde sie in das Verlies führen. Es war alles ziemlich unwirklich, wie in einer Gespenstergeschichte. Bis ihr klar wurde, wo sie sich befanden.
„Wir standen in der Familiengruft. Überall waren Nischen in den Mauern eingelassen, sie erschienen mir wie Regale aus Stein. In allen befanden sich Särge.“ Jack spürte, wie sie in Erinnerung an das Grauen erbebte, und er umfasste ihre Schultern noch ein wenig fester.
„Über einigen Särgen lagen staubige Samtdecken, an manchen konnte man noch verwelkte Grabgebinde erkennen.“ Wie kam es, dass die Blumen und Blätter nahezu ihre Form behielten?, hatte sie sich verwundert gefragt, immer noch nicht begreifend, was sie da sah. Louis hatte sie immer weiter geführt, tiefer und tiefer in das Gewirr von Grabkammern und engen Durchlässen. „Die offensichtlich älteren Särge waren mit Spinnweben überzogen. Einige waren zerbrochen.“ Fast einem magischen Zwang ausgesetzt, musste sie näher treten und in einen offenen Sarkophag spähen.
„In diesem Moment begann Louis, mir von den Toten zu erzählen, als stelle er mir lebende Verwandte vor. Es war grauenvoll, er aber schien dies für völlig normal zu halten; und ich bemühte mich, mein Entsetzen zu verbergen.“ Bereits damals lernte sie, keine Gefühle zu zeigen, wusste, dass sie der Geschichte von Maubourg Respekt zollen musste, und dass Schwäche etwas Unverzeihliches
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