HISTORICAL Band 0272
handelte wohl aus Enttäuschung über meinen älteren Bruder Charles, was er sich allerdings nicht eingestehen wollte. Ich bin meinem Vater in vieler Hinsicht ähnlich, besitze wohl die Eigenschaften, die er sich von Charles erwartet hatte. Aber Charles ist ein stiller, in sich gekehrter Einzelgänger. Mein Vater war bestrebt, ihn umzuerziehen und ihn auf den rechten Weg zu bringen. Deswegen schickte er mich fort, um nicht gezwungen zu sein, seine Fehleinschätzung einzusehen.
„Als Zehnjähriger – mein Bruder war zwanzig – war ich ein wahrer Teufelsbraten, ritt den ganzen Tag im halsbrecherischen Galopp durch die Gegend, kletterte auf Bäume. Aufgeschürfte Knie oder Knochenbrüche störten mich nicht. Ich lag meinem Vater ständig in den Ohren mit meinem Wunsch, fechten und schießen zu lernen, während Charles in seinem Zimmer hockte und Gedichte las. Mit sechzehn stieg ich allen jungen Mädchen aus der Umgebung nach, während Charles förmlich gezwungen werden musste, einen Ball zu besuchen oder mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Und so ging es weiter. Schließlich wurden die Gegensätze zwischen uns immer extremer. Aber das Pflichtgefühl meines Vaters, die Tradition zu wahren und das Recht des Erstgeborenen zu achten, war zu tief in ihm verankert. Er konnte sich nicht eingestehen, dass er mich mehr liebte als Charles, also musste er das Gegenteil beweisen und schickte mich fort.“
„Wie grässlich“, sagte Eva mitfühlend. Wieso machten Menschen sich und anderen das Leben so schwer, weil sie sich zu hohe Erwartungen steckten und unter Druck setzten? Wieso konnten sie einander nicht akzeptieren, so wie sie waren? „Hat dir deine Familie und dein Elternhaus sehr gefehlt?“
Jack zuckte mit den Achseln. „Mit achtzehn war ich in einem Alter, in dem ein junger Mensch ohnehin die Welt erkunden und sich die Hörner abstoßen will. Mein Vater wies mir ja nicht direkt die Tür. Ich kam gelegentlich zu Besuch und sah meine Mutter, Charles und meine Schwester Bel, allerdings selten und nur für wenige Tage. Und mein Vater hörte es gern, wenn andere Leute seinen ruhigen, wohlerzogenen älteren Sohn lobten und die wilden Eskapaden seines Jüngsten tadelten.“
„Und wieso sitzt du dann nicht jetzt angetrunken in einer Spielhölle?“, fragte sie spitz, um ihre Betrübnis für den jungen Mann zu verbergen, den er ihr geschildert hatte. In neun Jahren würde Freddie dieses Alter erreichen.
„Von mir wurde nichts erwartet“, fuhr Jack fort und blickte aus dem Fenster ins Leere, als schaue er zehn Jahre zurück auf sein jüngeres Selbst. „Nichts, außer Geld zu verprassen und ein charmanter Plauderer bei gesellschaftlichen Anlässen zu sein. Und ich tat mein Bestes. Ich verstand mich ausgezeichnet darauf, Geld zu verschwenden. Auch machte ich eine gute Figur und war ein gern gesehener Gast bei Gesellschaften – aber ich langweilte mich tödlich. Irgendwann ergab sich die Gelegenheit, einem Freund aus der Klemme zu helfen, dessen ehemaliger Kammerdiener ihn mit der Veröffentlichung indiskreter Liebesbriefe erpressen wollte. Eins führte zum andern, und irgendwann stellte ich fest, dass das Leben als Jack Ryder wesentlich interessanter ist als das nichtsnutzige Lotterleben des Lord Sebastian Ravenhurst.“
„Aber du bist doch ein und dieselbe Person, nur die Namen sind verschieden, nicht wahr?“, fragte Eva. „Lord Sebastian ist doch mit Jack Ryder aufgewachsen.“
„Vielleicht.“ Er sah sie unter zusammengezogenen Brauen an. „Aber das ändert nichts an unserer Situation. Die Großherzogin Eva de Maubourg hat keine Liaison mit dem jüngsten Sohn eines Dukes, genauso wenig wie mit einem Boten des Königs.“
„Das war nicht der Grund, warum ich etwas über deine Vergangenheit wissen wollte.“ Oh doch, das war es, du Lügnerin, schalt sie sich im Stillen. Gewiss stand Neugier im Vordergrund, aber du hast geahnt, dass dieser Mann ein Aristokrat ist und sich dadurch alles zum Guten wenden könnte . „Es war schlicht und einfach Interesse. Ich verabscheue Geheimnistuerei und Rätsel“, fuhr sie fast beiläufig fort und hoffte, er würde ihr glauben.
Die Art, wie seine Miene sich nach ihren Worten aufhellte, erleichterte und kränkte sie zugleich. Er wollte ihre Affäre nicht fortsetzen. Aber warum nicht? Bislang war sie der Meinung gewesen, er wäre ebenso traurig wie sie über das plötzliche Ende. Andererseits war er ein Frauenheld und Lebemann, wie er selbst zugegeben hatte. Eine Frau zu
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