HISTORICAL BAND 295
stickige Luft im Saal ihr den Atem nahm und sie an Dinge erinnerte, die sie lieber vergessen würde.
Die Seitentür stand einen Spaltbreit offen, ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nicht als Erste so früh am Morgen unterwegs war. Durch den Spalt konnte sie einen Mann sehen, der sich auf dem Burghof erleichterte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, doch nach seiner Kleidung zu urteilen, musste er einer von Lord Aylwins Leuten sein. Elgiva nutzte die Gelegenheit, um unbemerkt hinauszugelangen und außen um den Wohnturm herumzugehen. Von dort konnte sie ihre Umgebung gut überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Der Mann kehrte in den Saal zurück, und sie gelangte unbeobachtet zu den Ställen.
Auch hier herrschte Ruhe, da bislang noch nicht mal die Knechte wach waren. Sie alle hatten am Abend zuvor ebenfalls reichlich am Ale und Met teilgehabt, sodass jetzt niemand sie beobachtete, als sie zu dem Verschlag lief, in dem Mara untergebracht war. Die rotbraune Stute hörte sie kommen und begann prompt zu wiehern. Elgiva nahm das Zaumzeug vom Haken und betrat den Verschlag. Wenige Minuten später führte sie das Pferd aus dem Stall. Draußen angekommen, saß sie auf und ließ Mara Schritt gehen. Sie ritt an den Hütten im Weiler vorbei, wo es deutliche Anzeichen für Leben gab – eine Rauchfahne, die aus der Dachöffnung aufstieg, ein Hund, der vor einer geöffneten Haustür saß und sich am Hals kratzte. Die Männer im Saal dagegen würden wohl noch eine Weile benötigen, ehe sie aus ihrem tiefen Schlaf erwachten.
Froh, all dem für eine Weile entkommen zu können, atmete Elgiva die kühle Morgenluft ein. Doch auch das konnte ihre düstere Stimmung nicht vollständig vertreiben. Wenn sie in die Burg zurückkehrte, würde sie wieder die Rolle spielen müssen, die alle von ihr erwarteten.
Stolz und ein Gefühl für die Familienehre hatten sie dazu veranlasst, bei ihrer Verlobungsfeier weder Kosten noch Mühen zu sparen. Immerhin gab es auch einen Grund zum Feiern, sollten doch durch diese Heirat zwei bedeutende angelsächsische Häuser vereint werden. Ihr zukünftiger Ehegatte war ein Mann, den sie respektieren konnte. Wenn es aber doch nur Gutes mit sich bringen würde, warum fühlte sich ihr Herz dann so schwer an?
Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als auf einmal ihr Pferd scheute. Hastig zog sie an den Zügeln, um es zu bändigen, dann sah sie sich um. Aber da waren nur die Schatten unter den Bäumen und vereinzelte Nebelschwaden, und über allem lag eine unheimliche Stille. Das Pferd schnaubte nervös, was sie noch argwöhnischer machte. Elgiva musterte den umgebenden Wald sorgfältig. Die Ruhe hatte etwas Beängstigendes an sich, kein Windhauch ging, kein Vogel sang. Nicht einmal im Unterholz raschelte etwas.
Dann, endlich, machte sie eine Bewegung aus. Zwischen den Bäumen hindurch sah sie in einiger Entfernung einen Reiter, der weit nach vorn gebeugt im Sattel saß. Einen Moment lang überlegte Elgiva, ob es nicht am besten war, die Flucht zu ergreifen, solange der Fremde noch weit genug entfernt war. Doch etwas an seiner Körperhaltung hielt sie davon ab. Der Mann schwankte hin und her, als wäre er betrunken. Den Gedanken verwarf sie aber gleich wieder, denn als er näherkam, konnte sie erkennen, dass er bereits lange Zeit unterwegs gewesen sein musste. Das Fell seines Pferds war nass geschwitzt und dampfte in der frischen Morgenluft, Beine und Bauch des Tiers waren mit getrocknetem Schlamm bespritzt. Als der Fremde sich weiter näherte, wurde Mara unruhig, wieherte und tänzelte, doch Elgiva hielt die Zügel fest in den Händen, damit die Stute nicht durchging.
Der Reiter war ein Mann im mittleren Alter, und wie sein Pferd war auch seine Kleidung mit Morast beschmutzt. Sein Gesicht wirkte grau und von Schmerz verzerrt, und sie sah, dass eine Seite seines Rocks mit mittlerweile getrocknetem Blut getränkt war. Er starrte sie an, als sei sie eine Erscheinung, und dann endlich erkannte Elgiva den Mann wieder.
„Gunter!“
Der Verwalter ihres Onkels! Er musste den zweitägigen Ritt fast ohne Unterbrechung bewältigt haben, so erschöpft, wie Ross und Reiter wirkten. Jedes Wort schien ihn ungeheuer viel Kraft zu kosten, als er flüsternd erklärte: „Ich bringe wichtige Nachrichten für Ravenswood, Herrin.“
„Wir sind nicht weit entfernt. Kommt, ich bringe Euch hin.“
Er nickte und folgte ihr auf dem Weg, den Elgiva gekommen war. Kaum hatten sie das Tor passiert, rief sie Hilfe herbei.
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