HISTORICAL BAND 295
anzugreifen.“
„Willst du damit etwa sagen“, fragte Ubba mit finsterem Blick, „dass Ragnar einen sinnlosen Tod erlitten hat?“
Wulfrum wartete schweigend auf Halfdans Erwiderung, wobei er bei allen Anwesenden die gleiche unterdrückte Wut verspürte.
„Natürlich nicht. Wir werden Ragnar rächen, und dafür werden wir eine Armee losschicken, größer als jede Streitmacht, die je ein Mensch gesehen hat.“ Alle Augen richteten sich auf Halfdan, als dieser sich von seinem Platz erhob. „Wir werden eine zweihundert Schiffe starke Flotte entsenden.“
Voller Bewunderung betrachtete Wulfrum seinen Waffenbruder. Was er da beschrieb, war der größte Wikinger-Angriff, den es je gegeben hatte. Das war kein Angriff mehr, das war eine Invasion.
„Jeder Mann, der mit Axt oder Schwert umgehen kann, soll sich bereithalten“, sprach Halfdan weiter. „Wir werden uns durch Northumbria fressen wie ein Feuer durch Unterholz. Wir werden den König in seiner Burg heimsuchen, und dann wird er den Geschmack der Angst kosten. Sein Tod wird langsam und qualvoll sein, und er wird ihn herbeisehnen, lange bevor ich zulasse, dass er den letzten Atemzug tut. Das schwöre ich bei meinem Blut und beim heiligen Blut des Odin!“
Er zog eine Messerklinge über seine Handfläche und sah seine Brüder an, die seinem Beispiel auf der Stelle folgten und gemeinsam einen Blutschwur leisteten. Dann blieb sein Blick bei Wulfrum hängen. Es war eine wortlose Einladung, in Anerkennung ihrer Freundschaft und Brüderschaft. Wulfrum seinerseits unterbrach nicht für einen Moment den Blickkontakt zu Halfdan, während er seinen Dolch zog und sich gleichfalls einen Schnitt zufügte, um sein Blut mit dem der Brüder zu vermischen. Durch den Blutschwur war er untrennbar mit ihnen verbunden, war ihre Ehre nun auch seine Ehre, ihr Gelöbnis auch sein Gelöbnis. Halfdan nickte zustimmend, dann drehte er sich zu der erwartungsvoll schweigenden Menge um.
„Wer wird mit uns segeln, um Ragnar Lodbrok zu rächen?“
Zustimmender Jubel erfüllte die Halle, jeder Mann hob die Hand. Halfdan schien erfreut über die Entschlossenheit in den Gesichtern der Krieger. Dann gab er ein Zeichen, damit Ruhe einkehrte.
„Macht euch bereit. In drei Monden werden die Seedrachen ihr Segel setzen und Richtung England in See stechen.“
Wieder ertönte lauter Jubel.
„Eine angemessene Rache für Ragnar“, stellte Wulfrum fest.
„Es wird mehr als nur Rache sein, Bruder“, erwiderte Halfdan. „Diejenigen, die uns gut dienen, werden reich belohnt werden, mit Land und Sklaven, die das Feld bestellen. Und mit Frauen.“
Wulfrum grinste. „Die Frauen der Angelsachsen sind berühmt für ihre Schönheit, habe ich gehört.“
„So ist es. Und es wird höchste Zeit für dich, dir ein Weib zu nehmen. Ein Mann muss Söhne zeugen.“
„Das ist wohl wahr. Und wenn ich erst einmal eine Frau gefunden habe, die mir wirklich gefällt, werde ich sie heiraten und mit ihr viele Söhne zeugen.“
„Deine Anforderungen an eine Frau sind hoch, aber selbst du könntest dein Herz an eine angelsächsische Schönheit verlieren.“
„Bislang habe ich noch nie mein Herz an eine Frau verloren. Frauen stillen ein Bedürfnis, so wie Speis und Trank, aber sie können uns nicht für lange Zeit in ihren Bann schlagen.“
„So kannst du nur reden, weil du noch nie verliebt warst.“
„Richtig. Und das werde ich wohl auch nie sein. Man muss nicht verliebt sein, um Söhne zu zeugen.“ Wulfrum lachte. „Mein Herz gehört mir, Bruder, und ich beschütze es gut.“
1. KAPITEL
Northumbria, 867 n. Chr.
Elgiva saß auf dem Ziegenfell vor dem Feuer, die Arme hatte sie um ihre Knie geschlungen, ihr Blick war auf die Flammen gerichtet. Angeblich waren manche Menschen in der Lage, im Feuer die Zukunft zu lesen. In diesem Moment hätte sie viel dafür gegeben, einen solchen Blick in die Zukunft werfen zu können, der ihr vielleicht geholfen hätte, das Chaos in ihrem Kopf zu sortieren.
Sie schaute kurz zu Osgifu, ihrer Begleiterin, für deren Anwesenheit sie sehr dankbar war. Für sie war Osgifu nicht nur stets wie eine Mutter gewesen, sondern auch eine verschwiegene Vertraute. Nach dem Tod ihres Ehemanns hatte Osgifu ihre Dienste als Kinderfrau bei Lord Egbert angetreten. Mit ihren vierzig Jahren war sie immer noch ansehnlich, groß und von eindrucksvoller Erscheinung, trotz der Falten im Gesicht und der grauen Strähnen im dunklen Haar. Ihre grauen Augen sahen mehr als die anderer
Weitere Kostenlose Bücher