HISTORICAL BAND 295
gesehen.“ Sie trat näher. Als sie Finns gezücktes Schwert erblickte, blieb sie hinter ihm stehen.
Finn nahm ihren Rosenduft wahr. Bald schon würde er sie in seine sichere Burg bringen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Dann musste sie sich nicht mehr vor ihrem Vater im Wald verstecken.
„Er behauptet, sein Großvater sei hier Müller gewesen.“ Finns Bruder war zur Erntezeit in den Highlands erstochen worden. Wenn John Miller sich damals hier aufgehalten hatte, kam er als Mörder nicht infrage. „Stimmt das?“
„Ich bin zu jung, um mich daran zu erinnern, wann diese Mühle das letzte Mal in Betrieb war. Aber ich habe andere davon reden hören.“ Sie schien erleichtert. „In den letzten Wochen hat er oft Wasser für meine Freundin Morag geholt.“
„Bleib zurück“, warnte Finn sie und richtete das Schwert nach wie vor auf Millers Brust.
Der wirkte so gefügig, dass Finn ihn für unschuldig hielt. Dennoch konnte er nicht vorsichtig genug sein. Er würde ihn mit nach Caladan nehmen und jemanden suchen, der seine Angaben bestätigte. Finn schob das Schwert in die Scheide, nahm dem Mann das Messer ab und steckte es in seinen Gürtel.
Dann drehte er sich zu Violet um. Sie war unvergleichlich schön, anmutig und stark zugleich. Nie zuvor war er einer Frau begegnet, die darauf gekommen wäre, ihr Versteck dadurch zu schützen, dass sie Gerüchte über Geister verbreitete.
Doch als er sie neben der Kiste stehen sah, auf der er Millers Becher mit Wasser abgestellt hatte, wurde er das unheimliche Gefühl nicht los, dass Gefahr in der Luft lag. Misstrauisch musterte er den Fremden, der reglos beobachtete, wie Violet einen der Becher an die Lippen hob.
Plötzlich kam Finn der bleiche Körper seines toten Bruders in den Sinn. „Nein!“ Er riss ihr den Becher aus der Hand. „Es ist vergiftet.“
Fassungslos starrte sie ihn an. John Miller stieß ihn zur Seite und eilte zur Tür.
Finn zögerte keine Sekunde. Sofort warf er das Messer und nagelte Millers Umhang direkt neben der linken Schulter an der Wand fest.
„Was machst du?“, schrie Violet, deren Wangen ganz blass geworden waren.
Er rieb ihr mit einem Ärmel die Lippen ab. „Ich glaube, er hat etwas ins Wasser getan. Mein Bruder starb an einem giftigen Gebräu, und so ist vermutlich auch das andere Opfer ums Leben gekommen.“
„Aber warum?“ Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zu Miller um. „Wieso tust du das?“
„Euer Vater hat meine Familie verbannt, als wir die Mühle nicht mehr betreiben konnten. Es scherte ihn nicht, dass ich, der einzige Sohn, nicht stark genug war, sie zu reparieren.“ Langsam löste Miller einen dreckigen Beutel mit getrockneten Kräutern von seinem Gürtel. „Ich bin zu schwach, um mich wie ein Ritter zu rächen. Doch während ich mit meiner Familie auf der Suche nach einem neuen Herrn durch die Highlands irrte, lernte ich alles über die Eigenschaften wilder Pflanzen. Bald kam mir eine andere Idee, wie ich mich rächen konnte.“
Miller schloss die Augen. Ein roter Fleck breitete sich auf seinem Umhang aus. Erst jetzt erkannte Finn, dass er auch den Arm des Jungen getroffen hatte. Als er sich zu Violet umdrehte, sah er, wie bleich sie war.
„Du musst Morag holen.“ Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten.
Eine schreckliche Angst erfasste Finn, als Miller in ein gespenstisches Gelächter ausbrach.
„Hast du von dem Gebräu getrunken?“ Finn hatte gedacht, sie noch rechtzeitig daran gehindert zu haben.
„Ein bisschen.“ Der Ohnmacht nahe sank sie in seine Arme.
Er hob sie hoch und hastete mit ihr in die Nacht hinaus, ohne sich im Geringsten um John Miller zu scheren.
„Wir sind gleich da“, versprach er, während er wie um sein Leben durch den Wald rannte.
6. KAPITEL
Der Zauber hat gewirkt.
Es war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, als sie unter einem warmen Berg aus Decken erwachte. Das Kaminfeuer knisterte, und sie hörte Inna am Fußende ihres Bettes eine Melodie summen. Aus dem Duft nach frischen Kräutern schloss sie, dass Morag in der Nähe war.
Doch wo war die eine Person, nach der sie sich sehnte?
„Finn?“ Ihre Stimme klang wie ein Krächzen und ließ Morag zu ihr eilen.
Finn Mac Néill erhob sich von einem Stuhl neben der Tür.
Sie lächelte. Auch wenn Inna und Morag sie sofort mit Fragen bestürmten, achtete sie nur auf den Mann, der sie gerettet hatte. Der Mann, der ihr nach so kurzer Zeit so viel bedeutete.
„Lasst uns allein.“ Finns
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