Historical Collection 04
er in ihrer Nähe verbrachte, wuchs sein Verlangen nach ihr. In ihrer Miene spiegelte sich der unbezwingbare Stolz der Beduinen – diese Frau war es nicht gewohnt, hinter Mauern eingesperrt zu sein.
„Ich verstehe deinen Wunsch, nach Hause zurückzukehren. Wo immer sich das befindet.“ Er griff ihr unter den Schleier und machte sich daran, ihren Zopf zu lösen. Wie Tinte ergoss sich das tiefschwarze Haar über ihre Schultern und bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrer Haut. „Auch ich habe mein Zuhause seit Wochen nicht gesehen.“
„Aber ich dachte, Ihr lebt hier.“ Sie betrachtete ihn neugierig.
„Ich wohne nicht mehr im Topkapi-Palast, seit ich das Mannesalter erreicht habe“, gestand er. „Vater hat mich und meine Brüder auf Provinzen im ganzen Land verteilt, um Eifersüchteleien unter seinen Erben vorzubeugen.“ Nicht dass dieses Ansinnen von Erfolg gekrönt gewesen war. Khadin vermochte die düstere Ahnung, sein Zuhause nie wiederzusehen, einfach nicht abzuschütteln.
„Wo lebt Ihr dann?“
„In einer kleinen Provinz namens Nerassia, östlich von Alexandretta. Weit, weit weg von hier.“ Er drehte seine Handfläche nach oben und verschränkte seine Finger mit Lailas. „Dort würde es dir gefallen, denke ich. Es gibt viele Gärten, und mein Haus steht auf einem Hügel, von dem aus man den Fluss überblickt. Es ist wunderschön dort.“ Die Grenzen seiner Provinz erstreckten sich über viele Meilen, und vor seinem geistigen Auge sah er Laila auf einer milchweißen Stute über sein Land reiten, wobei ihr das schwarze Haar über den Rücken floss.
Wie seltsam, dass er sich vorstellte, sie mit sich zu nehmen. Doch das Bild wollte einfach nicht weichen. Er wollte diese Frau näher kennenlernen, sie eingehender verstehen. Niedergeschlagen fragte er sich, wie viel Zeit ihm dafür bleiben mochte.
Gern hätte er sich eingeredet, dass sein Vater ihn nicht herzitiert hatte, um ihn umzubringen. Doch ein Anschlag auf sein Leben war bereits verübt worden. Vielleicht war es nur ein Zufall gewesen, aber wahrscheinlicher war, dass es sich um einen ersten Versuch gehandelt hatte. Jedenfalls verspürte Khadin derzeit den Drang, sein Leben so intensiv wie irgend möglich auszukosten – denn dies mochten die letzten Momente sein, die ihm vergönnt waren.
Bald würde die Sonne untergehen, aber er wollte Laila noch ein Pferd vorführen. Er war neugierig zu sehen, wie sie mit ihrem Gespür für diese Tiere auf dieses besondere Exemplar eingehen würde. Daher führte er sie zu dem letzten Gebäude ganz am Ende der Stallungen.
„Wohin gehen wir?“, fragte Laila und richtete ihren Schleier.
„Es gibt da noch einen Hengst, den ich dir zeigen möchte.“
Schweigend schritten sie weiter, Hand in Hand. Laila schien sich in seiner Gegenwart nicht mehr so unbehaglich zu fühlen wie anfangs, und das freute ihn. Das Wiehern eines Pferdes durchdrang die Stille. Khadin führte Laila zu einer Einfriedung, in der ein weißer Araberhengst auf und ab lief. Der Hengst war ruhelos, galoppierte näher, als er sie erspähte, und stieg, als suche er sie einzuschüchtern.
Laila verzog bestürzt das Gesicht, als sie die roten Striemen auf dem Rücken des Pferdes sah. „Wer hat ihm das angetan?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Khadin kopfschüttelnd. „Ich habe ihn vor einigen Tagen bei einer Wette gewonnen. Der Pascha, von dem ich ihn habe, versprach einen Araber als Wetteinsatz, und erst später habe ich erfahren, dass es sich um eine Kriegsbeute handelte.“
Laila wirkte gedankenverloren. „Araber sind sehr wertvolle Pferde. Dieser hier ist mehr wert als ein Sklave.“ Sie entzog ihm ihre Finger und sah ihn beschwörend an. „Ich könnte ihn für Euch zähmen – im Austausch für meine Freiheit.“
Ihr Vorschlag hatte etwas für sich, aber es war nicht machbar. „Selbst wenn ich deiner Bitte nachkäme, hättest du weder Brüder noch Vater, die dich sicher nach Hause geleiten könnten“, hielt er ihr vor Augen. „Jenseits dieser Tore ist es weit gefährlicher als hier.“ Außerdem stand in den Sternen, wo sich die Überlebenden ihres Stammes aufhielten. Besser, Laila blieb hier, wo sie in Sicherheit war.
„Bitte“, flehte sie. „Es ist das Einzige, das ich Euch zu bieten habe. Lasst es mich versuchen.“
Khadin ließ seine Fingerspitzen unter ihren Schleier gleiten und zog den hauchdünnen Stoff hinunter, der ihr Gesicht bedeckte. Als ihr Mund zum Vorschein kam, strich er federleicht darüber,
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