Historical Collection 04
vergissmeinnichtblauen Augen nicht von ihm ab. Möglicherweise würde sich noch herausstellen, dass diese Reise ins Hinterland von Herefordshire durchaus ihre angenehmen Seiten hatte. Das Begräbnis des Earls hatte ihn von einer verteufelt vergnüglichen Jagdgesellschaft weggeholt, und er war bestrebt, so schnell wie möglich dorthin zurückzukehren. In der Zwischenzeit konnte er aber noch die angenehmen Seiten von Herefordshire genießen.
Sein Reisegefährte Peyton Ramsden, Earl of Dursley, der neben ihm stand, riss ihn aus der Träumerei heraus, indem er ihn unsanft in die Rippen stieß, um ihn daran zu erinnern, dass so ein Verhalten bei einer Trauerfeier unangebracht war. Zumindest in Peytons Augen. Sein Freund musste aber auch nicht so einem schockierend schlechten Ruf gerecht werden.
Im Übrigen war es für Killian unerheblich, was die Bewohner von Pembridge-on-the-Wye von ihm hielten. In Bezug auf ihn hatten sie zweifellos seit Jahren Spekulationen und Gerüchte gehört. Er würde noch die Verlesung des Testaments abwarten, sich mit dem Verwalter beraten, der seit Ewigkeiten das Gut leitete, und ihm Instruktionen erteilen. Dann würde er ihm seine Kontaktadresse hinterlassen und in höchstens zwei Tagen auf dem Rückweg sein, ungeachtet der hübschen Frau auf der anderen Seite des Grabes. Trotzdem waren zwei Tage eine lange Zeit, wenn man allein war und Killian Redbourne hieß.
2. KAPITEL
„Ich, Rutherford Michael Redbourne, Fünfter Earl of Pembridge, am heutigen Tage, dem fünften September des Jahres Achtzehnhundertdreißig, bei vollem Verstand und körperlicher Gesundheit, hinterlasse hiermit meinem Neffen und Erben Killian Christopher Redbourne meinen irdischen Besitz mit allen Rechten und Pflichten …“
K illian trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den kleinen Tisch neben seinem Stuhl. Er befand sich im privaten Arbeitszimmer von Pembridge Hall, seit fünf Generationen der Wohnsitz des Earl of Pembridge. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit hatte er den Anwalt gebeten, das Testament sofort im Anschluss an die Beerdigung zu eröffnen. Je früher alles unterzeichnet und der Titel offiziell übertragen war, desto besser. Sein Onkel hatte ihn nie gemocht und er ihn umgekehrt ebenso wenig. Es gab also keinen Grund, Trauer vorzutäuschen und die Angelegenheit zu verzögern.
Er besaß keinen eigenen Titel, denn sein Vater war ein zweiter Sohn, dennoch hatte Killian den Titel und Pembridge nie für sich selbst begehrt. Er hatte sich auch nie gewünscht, mit seinem Cousin Robert zu tauschen, der in der Gewissheit aufgewachsen war, irgendwann eine hohe gesellschaftliche Stellung zu bekleiden. Killian war stolz darauf, seinen eigenen Weg gegangen zu sein, obwohl ihm seine Herkunft natürlich dabei geholfen hatte, einen guten Posten zu finden. Jetzt würde ihm seine Erbschaft auch noch einen gesicherten Platz in der Gesellschaft einbringen. Mit vierunddreißig Jahren war er nun ein Earl, ob er wollte oder nicht. Hätte sein Onkel die Wahl gehabt, wäre er es nicht geworden. Es war makaber sich vorzustellen, wie sein Onkel sich im Grabe herumdrehte bei dem Gedanken, dass sein missratener Neffe seinen Titel mit allem Drum und Dran erbte.
Der Anwalt beendete die Testamentsverlesung, und Killian schaute auf. „War das alles? Sind Sie fertig?“, fragte er. Der Anwalt sah ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck über den Rand seiner Drahtbrille hinweg an. Er schien eine andere Reaktion von ihm zu erwarten. Killian hatte allerdings nicht mit voller Aufmerksamkeit zugehört, sondern stattdessen über seinen Onkel nachgedacht, aber auch über die wunderschöne Frau am Grab. Alles, was er mitbekommen hatte, war so, wie er es von einem Testament erwartete: eine Aufzählung der Erbstücke, aber auch eine Darlegung von ausstehenden Verbindlichkeiten.
Der Mann hüstelte. „Mr Redbourne“, begann er, verbesserte sich aber gleich wieder. „Lord Pembridge, ich sagte, das Anwesen verfügt über keinerlei Geldmittel mehr.“
Jetzt hörte Killian plötzlich mit voller, ungeteilter Aufmerksamkeit zu. Fragend zog er eine Augenbraue hoch. „Wie bitte?“
„Das Anwesen ist bankrott.“
Killian lehnte sich im Stuhl zurück und versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. So etwas hatte er überhaupt nicht erwartet, und kein Geschäftsmann hörte so etwas gern. Er hatte keine Ahnung gehabt. Früher, während der unregelmäßigen Besuche in seiner Jugend, war es auf dem Anwesen immer lebhaft und geschäftig zugegangen,
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