Historical Collection Band 01
reagieren würden, wenn er ihnen mitteilte, dass er die mittellose Schwester eines Künstlers zu heiraten gedachte. Im Gegensatz zu früher waren ihm die zu erwartenden Vorwürfe und schockierten Ausrufe vollkommen gleichgültig. Das Problem lag anderswo: Würde Lionel einer solchen Ehe zustimmen?
„Es gibt da ein Problem“, sagte David, als habe er Everetts Gedanken gelesen.
„Pardon?“
David füllte ein zweites Glas und erhob sich. „Ich finde, Sie sollten doch etwas trinken.“ Als er zu Everett hinging, schien die goldene Flüssigkeit im Licht der Lampe zu glühen. Er hielt seinem Freund das Glas hin. „Ein hervorragender Brandy.“
„Ich sagte doch …“
David unterbrach ihn. „Ich möchte mit Ihnen über Lionel reden.“
Es war der Ton, der Everett erschreckte. „Was ist mit ihm?“, fragte er. „Haben Sie ihn kürzlich gesehen?“
„ Sie sind ihm offensichtlich nicht begegnet.“
Eine seltsame Formulierung! „Wir hatten bisher nur schriftlich Kontakt, das stimmt.“
David betrachtete ihn nachdenklich. „Trinken Sie, mein Freund.“
„Ich möchte keinen Brandy!“
„Also gut.“ David zuckte die Schultern. „Lionel ist vor einem halben Jahr in Italien gestorben. Ich habe Loveday geholfen, ihn zu bestatten.“
Sehr vorsichtig griff Everett nach dem Glas, hob es an den Mund und leerte es.
Noch ehe die Sonne aufging, machte Everett sich auf den Rückweg nach London. Er ließ einen verschlafenen und sehr verwirrten Pferdeknecht zurück, der nicht begriff, warum jemand um dies Zeit darauf bestand, sein Pferd satteln zu lassen. Außerdem hinterließ er ein paar Zeilen für seine Tante, die allerdings keine Erklärung für seinen überstürzten Aufbruch enthielten. Und für Phoebe Angaston einen Brief, in dem er ihr von Herzen für ihren guten Rat dankte.
Auf sein Drängen hin hatte David ihm erzählt, was er über Lionels Tod wusste. „Loveday sagte, er sei in einen Streit verwickelt worden. In einer Kneipe anscheinend. Einer der Dorfbewohner hatte wohl etwas dagegen, dass Lionel sein Mädchen malte, und schlug ihn zusammen. Ein paar Tage später erblindete Lionel. Ich hatte die beiden kurz zuvor noch besucht. Da ging es ihnen gut. Doch dann schrieb Loveday mir einen verzweifelten Brief. Sie flehte mich an, zurückzukommen und ihr zu helfen. Sie machte sich die größten Sorgen um ihren Bruder.“
Jeder Maler würde den Verstand verlieren, wenn er nichts mehr sehen könnte.
„Als ich eintraf“, schloss David grimmig, „war Lionel schon tot.“
Viel mehr gab es nicht zu berichten. David hatte dafür gesorgt, dass Loveday als Gesellschafterin einer Dame, die nicht ohne Begleitung reisen wollte, ein Schiff nach England bestieg. Allein konnte sie nicht in Italien bleiben. Sie hatte darauf bestanden, Lionels Werke mitzunehmen, ebenso wie ihre eigenen.
Ihre eigenen Werke … Everett dachte daran, dass er den Unterschied zwischen den Gemälden sogleich gesehen hatte. Aber natürlich hatte er nicht geahnt, dass die Bilder, deren Stil er kannte, Lionels Werke waren, und die anderen von Loveday gemalt worden waren. Sie hatte das Strandbild geschaffen! Das wusste er jetzt. Sie hatte auch früher schon gemalt, das wusste er. Aber sie hatte die Gemälde nie jemandem außer ihrem Bruder gezeigt.
Die Nacht senkte sich über die Stadt, als Everett schließlich in den Durchgang zum Little Frenchman’s Yard trat. Gleich darauf klopfte er an Lovedays Tür.
Eine schlampige Frau, die er nie zuvor gesehen hatte, öffnete ihm. Auf seine Frage nach Miss Trehearne sagte sie: „Ausgezogen. Weg. Hab gehört, dass se nun nen Kerl hat. Se soll sich schon ne Weile mit ihm rumgetrieben hab’n. Un jetz’ wohn ich hier.“ Sie streckte ihm ihre Brüste entgegen. „Wie isses? Ham Se Lust auf mich?“
Er lehnte das Angebot höflich ab. Ihm war kalt. Natürlich hatte er gewollt, dass Loveday sich eine bessere Wohnung in einem weniger gefährlichen Stadtteil suchte. Aber er war sich so sicher gewesen, sie hier zu finden! Was sollte er jetzt tun?
Da er keine Idee hatte, wohin Loveday gegangen sein könnte, beschloss er, die Nacht in seinem Haus am Grosvenor Square zu verbringen und sich am nächsten Morgen auf die Suche nach ihr zu machen.
Einen Moment lang starrte Everett sein Haus an. Nirgends brannte Licht. Warum auch? Loveday würde die Arbeit an den Wandgemälden schon vor Stunden eingestellt haben. Und die Dienstboten, die nichts von seiner Rückkehr ahnten, würden früh zu Bett gegangen sein. Nun,
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