Historical Collection Band 5
Erfahrung, dass es noch mindestens ein bis zwei Stunden dauern würde, bis die Sonne aufging. Da kam ihr eine Idee und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.
Ein kleines Vergnügen vor der Arbeit, dachte sie sich.
Voller Vorfreude lief sie zu den Pferdeställen hinüber und entriegelte geschickt das Tor. Leise trat sie hindurch und sah im Dämmerlicht die Reihe der Boxen entlang. Das Heu unter ihren Füßen erfüllte den Stall mit einem erdigen, heimeligen Duft, der ihr ein Lächeln entlockte.
„Bayard?“, flüsterte sie und lugte über die Tür einer großen Box.
Das riesige Tier schnaubte, und sein Atem wurde zu weißen Wolken in der kühlen Luft. Es kam zu ihr. Giselle streckte die Hand aus und schnalzte mit der Zunge bis das majestätische Schlachtross bei ihr stand und sich das samtene Maul streicheln ließ. Das Pferd ihres Herrn war Eustache nicht unähnlich. Seine Statur und das Ausmaß seiner Kraft waren äußerst bedrohlich, und doch zeigte es jetzt eine überraschende Sanftmut.
„Guten Morgen, Bayard“, sagte sie leise und beugte sich vor, um den Hals des Tieres zu streicheln.
Für ein paar Minuten genoss Giselle einfach die Ruhe und die vertrauten Gerüche um sie. Doch plötzlich kam Unruhe in die Tiere, sie stampften mit den Hufen und tänzelten rastlos in ihren Boxen umher. Selbst Bayard wich zurück und rollte mit den Augen. Stirnrunzelnd trat Giselle einen Schritt zurück.
„Was ist los?“, fragte sie und zog verwirrt die Brauen zusammen.
Und dann hörte auch sie es.
Es begann als fernes Rauschen, ein Raunen im Wind. Dann schwoll der Laut an, bis ein tosendes Brüllen die Luft erfüllte. Giselle rannte aus dem Stall in den Hof hinaus. Ein greller orangeroter Schein färbte den Himmel – doch es war zu früh für den Sonnenaufgang.
Giselle schrie auf und rannte die Stufen der Brüstungsmauer empor. Ihr Herzschlag raste, und Angst schnürte ihr die Kehle zu. Als sie auf der Brustwehr angekommen war, gaben ihre Knie vor Entsetzen beinahe nach.
Der Himmel leuchtete in grellem Rot, doch es war nicht die Sonne. Es war Feuer. Das Dorf brannte.
Aus voller Kehle rufend und schreiend, rannte Giselle zu den Nachtwachen, die tief und fest auf ihren Posten schliefen. Ohne recht zu wissen, was sie tat, gestikulierte und brüllte sie weiter. Die Wachen sprangen auf und starrten über die Brüstungsmauer in Richtung Dorf, die Augen vor Schreck geweitet. Dann läuteten sie die Alarmglocken.
Kurz blieb alles still.
Doch dann wurde der Hof von einer Menschenwoge überschwemmt. Wachen rannten aus ihren Quartieren, wobei sie noch mit den Einzelteilen ihrer Rüstungen kämpften. Stalljungen führten tänzelnde Schlachtrösser aus den Boxen, bereit zum Kampf. Die Tore wurden geöffnet, und die ersten Dorfbewohner strömten in den vor Kurzem noch verlassenen Hof.
Giselle sah all dem mit wachsendem Entsetzen zu. Unter jenen Menschen, die schutzsuchend in den Hof geeilt kamen, war auch die Familie, die das Land neben dem ihrer Eltern bestellte. Doch ihre Mutter und ihr Vater waren nirgends zu sehen. Sie spähte wieder hinaus über die Brüstungsmauer, dorthin, wo die Schreie der Dorfbewohner die Nachtluft zerrissen. Gegen den heller werdenden Horizont konnte sie jetzt die Umrisse berittener Räuber erkennen, die das Land verwüsteten. Das Klirren von Metall erhob sich über dem Brüllen des Feuers, das Häuser und Felder verschlang.
Sie riss sich von dem schrecklichen Anblick los, ihr einziger Gedanke galt ihren Eltern. Sie rannte die Stufen hinab zum Hof und kämpfte sich durch die panische Menschenmenge zu den Toren vor.
Dort erwartete sie ein schrecklicher Anblick. Der Hang vor ihr war ein Meer aus fliehenden Menschen, und dazwischen lagen die Körper derer, die bei dem Angriff getötet oder niedergetrampelt worden waren. Tränen verschleierten ihren Blick, als Giselle losrannte, hinaus, in Richtung der Hütte ihrer Eltern.
Sicher würden sie ihr gleich entgegenkommen. Verzweifelt klammerte sie sich an diesen Gedanken.
Bei jedem Atemzug fuhr ihr ein Stechen in die Seite, doch sie achtete nicht darauf und suchte zwischen den entgegenkommenden Dorfbewohnern nach vertrauten Gesichtern. Und dann – dort, ja dort! Die Umrisse zweier Menschen, die gerade den Hügelkamm erklommen, tauchten vor ihr auf. Ihre Silhouetten zeichneten sich scharf gegen den Schein des wütenden Feuers ab, das ihr einstiges Zuhause verschlang.
„Maman! Papa!“ Die Worte waren kaum mehr als ein schrilles Keuchen.
Sie
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