Historical Collection Band 5
waren nur noch ein paar Meter von ihr entfernt. Gleich würde sie ihnen in die Arme fallen. Sie schluchzte laut auf. Gleich konnte sie ihnen in die Augen sehen.
Doch plötzlich blieben sie stehen, und der Ausdruck auf ihren Gesichtern war keine Erleichterung – sondern schieres Entsetzen.
Giselle blieb nur ein Moment flüchtiger Verwirrung, bevor sie fühlte, wie sie emporgerissen wurde. Kurz verlor sie jede Orientierung, dann landete sie mit dem Bauch über dem Knauf eines Sattels. Der Aufprall raubte ihr den Atem, doch es war der Schwertgriff des Reiters, der ihr das Bewusstsein nahm. Dann wandte er sein Pferd und donnerte im gestreckten Galopp davon.
Die Räuber hatten Giselle in ihrer Gewalt.
6. KAPITEL
E ustache schreckte hoch, kaum dass die erste Alarmglocke erklang. Unwillkürlich streckte er die Hand nach Giselle aus – doch sie war verschwunden. Fluchend sprang er aus dem Bett und stieg in seine Kleider. Dann rannte er aus seinem Gemach in die Große Halle hinunter.
„Sohn!“ Der befehlende Ruf seines Vaters ließ ihn innehalten. „Wo willst du hin?“
„Wo ist meine Zofe?“, entgegnete Eustache knapp.
„Hast du denn keine anderen Sorgen als deine kleine Gespielin? Wir werden von Räubern angegriffen.“
„Räuber“, wiederholte Eustache gepresst und ausdrucklos.
„Ja“, rief sein Vater wild gestikulierend. „Die Nachtwachen berichten, dass die Schurken das Dorf in Brand gesteckt haben und die Bauern abschlachten. Sie werden so viel rauben, wie sie nur können, und vielleicht werden sie sogar versuchen, das Château einzunehmen!“
Eustaches Augen wurden zu schmalen Schlitzen, seine Finger ballten sich zu steinharten Fäusten, und die Venen an seinen Unterarmen traten hervor.
„Wo ist meine Rüstung?“
„In der Waffenkammer bei den Ställen“, antwortete sein Vater und wich unwillkürlich einen Schritt zurück vor dem Anblick seines kriegerischen Sohnes.
Eustache wirbelte herum und schritt davon, die Menschenmenge in der Halle teilte sich, um ihm Platz zu machen.
„Was wirst du jetzt tun?“, rief sein Vater ihm nach.
„Was ich am besten kann“, antwortete Eustache finster, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Im Hof herrschte Chaos. Halb bekleidete Wachen und durcheinanderschreiende Dorfbewohner rannten umher. Ohne all dem Beachtung zu schenken, lief Eustache zu den Ställen.
„Meine Rüstung!“, befahl er gebieterisch.
Doch sein Pferdeknappe schien vollkommen außer sich zu sein. Er kauerte in einer Ecke und hatte sich die Hände über die Ohren geschlagen. Eustache ging zu ihm, packte ihn am Kragen und riss ihn auf die Füße. Dann schüttelte er ihn.
„Hol mir meine Rüstung und mein Pferd“, schrie er über den allgegenwärtigen Lärm hinweg, „oder stirb hier wie ein Feigling, du armseliger Wurm.“
Er ließ den Burschen fallen, der sich zu einem Häufchen Elend zusammenkauerte. Laut fluchend ließ Eustache ihn liegen und betrat die Waffenkammer. Er griff nach seinem Kettenhemd und zog es sich über. Seine Rüstung anzulegen war eine Aufgabe, die er normalerweise nicht allein ausführte, doch das Gefühl der Dringlichkeit, das ihn erfüllte, zwang ihn voran. Als Nächstes legte er die Kniekacheln und Beinröhren an, zog sich schließlich den Helm über den Kopf und griff nach seiner mächtigen Streitaxt.
Als er die Waffenkammer wieder verließ, wartete der Knappe bereits mit Bayard auf ihn. Der Hengst war gesattelt und kampfbereit, und neben dem Pferd stand ein Schemel. Mit zitternden Fingern reichte der Knappe Eustache die Zügel.
„Gut“, bellte Eustache, nahm die Zügel und schwang sich in den Sattel.
Dann drückte er Bayard die Fersen in die Flanken, und der Hengst galoppierte in den Hof hinaus. Die Pächter und Bauern stoben aus dem Weg und jubelten ihrem Herrn mit gereckten Fäusten zu. Ehrfürchtig sahen sie ihm nach, als er mit erhobener Streitaxt durch die sich schließenden Tore ins Freie sprengte.
Vor der Brüstungsmauer tobte ein furchtbarer Kampf, doch es war nichts, was Eustache nicht schon auf dem Schlachtfeld erlebt hätte. Er fegte durch die Reihen der Angreifer, schwang seine Axt und fällte Pferde und Reiter gleichermaßen erbarmungslos. Der ehrfurchtgebietende Anblick ihres kämpfenden Seigneurs erfüllte auch die Vasallen mit neuem Kampfgeist, und sie schlugen die Angreifer tapfer zurück.
Schon bald waren die Räuber zurückgedrängt und ergriffen die Flucht. Eustache jagte sie bis an die Grenze des Landguts und wendete dann sein
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