Historical Collection Band 5
zu vertrauensselig hier.
Luo Cheng war ganz anders, als sie erwartet hatte. Er hatte irgendwie etwas Reines an sich. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Arbeitsblätter. Heute Morgen hatte er dunkle Schatten unter den Augen gehabt, und an seinen Fingerspitzen war immer ein blasser Tintenfleck. Während sich seine Kollegen jeden Abend betranken, kehrte Cheng offenbar nachts in sein Zimmer zurück, um zu arbeiten. Sie stellte sich vor, wie seine breite Hand einen Kalligraphiepinsel hielt. Er war nicht zum Scholaren geboren – ebenso wenig wie sie zur Musikantin. Sie hatte Fußböden geschrubbt und sich als Handlangerin abgerackert, um in die Truppe aufgenommen zu werden, und in jeder freien Minute hatte sie auf der Pipa geübt. Ihre einzige Alternative wäre auf dem Rücken liegend gewesen, als gewöhnliche Trinkhaushure. Sie hatte weder die Schönheit und Eleganz noch die Erziehung dafür, etwas Besseres zu werden.
Nervös nahm sie ihr Instrument von einer Hand in die andere und beobachtete vom Innenhof aus die Tür. Es war offensichtlich, dass Cheng ursprünglich von einem Ort stammte, wo es ganz anders zuging als hier in den überfüllten Straßen der Stadt. Wo man als junger Mann, dem alle Möglichkeiten offenstanden, sich selbstlos für eine Fremde in Gefahr begab, obwohl sie ihm Unrecht getan hatte. Und Jia hatte ihm Unrecht getan.
Sie blickte starr zu der Tür. Kein Mensch außer Buddha selbst konnte das alles verzeihen. Jia streifte mit dem Gewand an den Zweigen der Sträucher vorbei und eilte über den Hof. Wie konnte sie so dumm sein? Sie hatte den Fehler gemacht, Cheng den Wert des Buches zu verraten. Sie musste es vor ihm finden.
Sie schlich in das Zimmer und sah Cheng auf der gegenüberliegenden Seite stehen, den Rücken zur Tür gewandt. Er fuhr herum, eine Schriftrolle in der Hand. Eine einzelne kleine Öllampe auf dem Schreibtisch verbreitete einen flackernden Lichtschein.
„Es geht sicher schneller, wenn wir beide gemeinsam suchen“, erklärte sie hastig.
Er sah nicht gerade begeistert aus, aber mit dem Kopf wies er zu der anderen Wand. „Schaut in der Truhe dort drüben nach.“
Die große Holztruhe stand neben einem Kleiderschrank. Wer auch immer dieser Guo war, sie konnte bereits sagen, dass sein Zimmer größer war als das von Cheng und besser eingerichtet. Die Lampe warf nur sehr wenig Licht zu der Wand auf der anderen Seite. Jia kniete sich auf den Boden und durchsuchte die Kiste, tastete mit den Fingern nach irgendetwas, das sich wie ein Buch anfühlte. Sie strich sogar mit den Händen an den Seitenwänden und auf dem Boden der Truhe entlang, falls dort ein geheimes Versteck eingebaut war.
„Nichts“, meldete sie.
„Nichts“, wiederholte Cheng.
„Vielleicht hat er herausgefunden, wie wertvoll das Buch ist. Er könnte es im Inneren von irgendetwas versteckt haben.“
Sie öffnete den Schrank. „Bringt das Licht hierher.“
Cheng hielt die Lampe hoch, um in den Schrank hineinzuleuchten, Jia wühlte ihre Hände zwischen die Stapel von Seide und Leinen. Sie wurde sich immer stärker seiner Nähe bewusst. Er stand ganz dicht hinter ihr, und sie spähten gemeinsam in das Innere des Schranks.
„Guo hat wirklich viele Kleider“, sagte sie enttäuscht.
„Sein Vater ist Textilkaufmann.“
„Er muss einen hohen Rang haben, um es sich leisten zu können, im Lotuspavillon trinken zu gehen.“
„Vielleicht hat Guo das Buch gar nicht mitgenommen“, sagte Cheng nachdenklich.
Es gab Tausende von Studenten in der Stadt, sie konnten nicht jeden überprüfen. „Er muss es gewesen sein“, beharrte sie und nahm die Suche wieder auf.
Plötzlich wurde ihr Puls unregelmäßig, als sie mit ihrem Arm seinen streifte. Alles in ihr zog sich zusammen. Dieser Moment war sehr unpassend dafür, dass sie plötzlich seine Nähe so überdeutlich wahrnahm.
„Ist das Buch denn so wichtig für Euch?“, fragte Cheng leise.
„Wie wichtig ist es, wenn man seine Zukunft selbst bestimmen möchte?“ Sie drehte den Kopf. Er stand ganz dicht hinter ihr. Mit dem Arm, der die Lampe in die Höhe hielt, umarmte er sie beinahe. Er würde ihre Gründe bestimmt nicht verstehen. „Für Frauen gibt es kein kaiserliches Examen“, sagte sie flüsternd.
Er blieb stumm und betrachtete sie intensiv. Ein schwacher Lichtkegel umgab sie wie eine heimliche Umarmung. Selbst im Halbdunkel befürchtete sie, der Lichtschein würde zu viel von ihr verraten. Sie senkte ihren Blick zu einem Punkt gleich
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