Historical Exclusiv 45
worden war, die ihr von dem Gespräch zwischen Rorik und Thorolf berichtet hatte.
Yvaine ärgerte sich, gestern eingeschlafen zu sein, sobald ihr Kopf das Kissen berührt hatte – was kein Wunder nach zwei schlaflosen Nächten war. Sie hatte nicht gehört, wie Rorik die Kammer betreten hatte, auch nicht, wie er sich in aller Frühe wieder davongeschlichen hatte. Sie kannte zwar seine Absicht, ohne den Grund dafür zu wissen, was sie zutiefst beunruhigte.
Der Platz an der Mole neben dem Seedrachen war leer. Othar und seine Mutter waren wohl mit dem zweiten Langschiff zu einer größeren Fahrt aufgebrochen, sonst hätten sie ein kleines Ruderboot genommen.
Sie blickte die bewaldete Bergflanke hinauf. Auf halber Höhe lag eine sonnige Lichtung, dort oben wollte sie sich ins Gras setzen, in Sichtweite des Hauses, sich die Fragen überlegen, die sie Rorik stellen würde, und auf seine Rückkehr warten.
Das laute Schlagen einer Tür im Haus festigte ihren Entschluss. Sie stieg den Hang hinauf und versuchte, die unbestimmte Ahnung eines bevorstehenden Unheils zu verdrängen, die ihr wie ein gespenstisches Raunen folgte.
Brachte er sie deshalb nach England? Um sie keiner Gefahr auszusetzen, die ihr hier drohte? Was glaubte er eigentlich, würde sie in England erwarten, wo es Gefahren anderer Art gab, die sie ins Unglück stürzen würden? Er musste doch wissen, dass Edward sie seinem Einfluss entziehen würde, sobald er sie zu Gesicht bekam.
Eine dumpfe Leere breitete sich in ihr aus. Für sie gab es keinen Grund mehr, nach England zurückzukehren. Eine von ihr verfasste Botschaft an Edward, in der sie die Geschehnisse beschönigte – unter Weglassung gewisser Einzelheiten – und ihm versicherte, dass sie rechtmäßig verheiratet und zufrieden sei, würde ihn beschwichtigen und daran hindern, Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Nacht in Thorkills Hütte hatte sie davon überzeugt, dass Rorik sie immer noch begehrte. Es bestand auch für ihn kein Grund, Einervik den Rücken zu kehren. Warum lag ihm daran, alle Verbindungen zu seiner Heimat abzubrechen? Warum sah er sich gezwungen, seinen Besitz zu verkaufen?
Es sei denn …
Gütiger Gott, dachte er etwa daran, Edward eine Art Entschädigung anzubieten? Hatten die gemeinsamen Liebesnächte, die schönsten, glücklichsten Stunden in ihrem ganzen Leben, ihren Wert gemindert?
Yvaine blieb stehen, schlang die Arme um sich und blinzelte gegen das Brennen in ihren Augen an. Das wäre schlimmer als eine Lösegeldforderung.
Das Knacken eines brechenden Zweiges riss sie jäh aus ihren angstvollen Grübeleien. Sie fuhr auf, warf unstete Blicke um sich und erschrak. Tief in trübe Gedanken versunken, war sie höher gestiegen als beabsichtigt.
Sie spähte durch die Bäume, das Glitzern des Wassers in der Ferne beruhigte sie ein wenig. Doch die Lichtung, die sie vom Haus gesehen hatte, lag nun weit unten zu ihrer Linken. Hier oben in den dichten Fichtenwald sickerte das Licht nur als dämmriger, grüner Schatten.
Es war sehr still. Kein Lüftchen regte sich. Wieder beschlich sie ein unheimliches Gefühl. Angestrengt horchte sie auf ein Geräusch, das ihr Gewissheit geben könnte, der geknickte Zweig stamme von einem harmlosen Tier. Aber im schattigen Wald war es still.
Kein Laut. Keine Bewegung.
Kopfschüttelnd machte sie sich eilig auf den Rückweg und schalt sich wegen ihres Leichtsinns. Sie hatte nicht darauf geachtet, wohin sie ihre Schritte lenkte. Aber der Fjord würde ihr die Richtung weisen, und wenn der Wald hinter ihr lag, würde sie am Ufer entlang zum Haus zurückfinden.
„Wie kann man nur so dumm sein“, schalt sie sich halblaut. Als der Waldrand in Sicht kam, beruhigte sich ihr Herzschlag. Gunhild und Othar waren fort, es drohte also keine Gefahr. Dennoch wurde ihr leichter ums Herz, als sie in die helle Sonne trat.
Yvaine suchte die Gegend mit Blicken ab. Ein hoher Erdhügel, der vor ihr aufragte, versperrte den Blick zum Ufer. Sie war zufällig auf Egils Grab gestoßen.
Sie näherte sich der aufgeschütteten Begräbnisstätte, die kein Grabstein schmückte, und fragte sich zerstreut, ob sie den alten Mann ins Herz geschlossen hätte, wenn ihr mehr Zeit geblieben wäre. Egil hatte viele Fehler in seinem Leben begangen, aber dafür auch einen hohen Preis bezahlt.
Im nächsten Sommer würde der Erdhügel mit Gras bedeckt sein. Hatte Rorik sich vorgenommen, einige Fehler seines Vaters nicht zu wiederholen?
Ein Schatten legte sich über sie, wie um
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