Historical Exclusiv 45
einen Schritt vor.
Aus dem Augenwinkel nahm Rorik wahr, wie Thorolf sich näherte. „Warum übernimmst du nicht das Steuerruder?“, meinte er an Othar gewandt. „Und bringst uns endlich auf die offene See.“
Othar gab seine lauernde Pose auf. „Du lässt mich ans Ruder?“
„Wenn du willst. Achte auf gleich bleibende Fahrt und lass das Segel setzen, sobald wir offenes Wasser erreichen.“
Nach einem langen sinnenden Blick auf Yvaine drehte Othar sich um und wandte sich mit finsterer Miene an Thorolf, der sich ihm bis auf einen Schritt genähert hatte. „Du musst nicht den Wachhund spielen“, fuhr er ihn bissig an. „Wenn Rorik das Weib haben will, soll er es haben. Wir haben andere, stimmt’s, Ketil?“
„Ja, und wir haben viel Zeit.“ Der grobschlächtige Kerl mit dem roten Bart maß Rorik mit einem herausfordernden Blick, bevor er sich an seinen Platz begab. „Wir bleiben ja nicht ewig auf dem Schiff. Hab ich Recht, Gunnar?“ Er knuffte seinen Vordermann in die Seite und nahm das Ruder auf.
Der Freund drehte sich mit einem breiten Grinsen über die Schulter, wobei schwarze Zahnlücken sichtbar wurden. „Und wir nützen die Zeit, Ketil Schädelspalter. Wir nützen sie gut.“
Othar lachte und ging breitbeinig zum Heck. „Nun aber los, Männer“, brüllte er im Vorübergehen. „Legt euch kräftig ins Zeug!“
„Aufgeblasener Flegel“, brummte Thorolf. „Hoffentlich setzt er uns nicht auf Grund.“
„In diesem ruhigen Gewässer kann er keinen Schaden anrichten.“ Rorik ließ den Blick über die Schaumkronen der Wellen wandern. „Behalte ihn im Auge.“
„Ja, aber damit ist es nicht getan, Rorik. Ketils dreister Blick gefällt mir nicht, genauso wenig wie Gunnars Gehabe. Auf einem Schiff wird es verdammt ungemütlich, wenn Männer sich wegen Frauen in die Haare kriegen. Das hast du selber oft genug gesagt. Du solltest sie loswerden. Allesamt.“
„Was schlägst du vor? Soll ich sie über Bord werfen?“
„Natürlich nicht. Setze sie irgendwo an der Küste aus. Sie machen uns nur Scherereien, das sehe ich kommen.“
Roriks Gesichtszüge verhärteten sich. „Bevor du losplapperst wie eine Wahrsagerin“, stieß er zähneknirschend hervor, „zeige ich dir etwas. Komm mit.“
Er stapfte zum Zelt, schlug die Plane zurück und prallte beinahe gegen das dunkelhaarige Bauernmädchen, das durch die Öffnung spähte.
Ihr hastiger Rückzug machte ihn nur noch gereizter. „Es geschieht euch nichts, wenn ihr euch ruhig verhaltet“, knurrte er. „Wir sind keine Ungeheuer.“
Feindselig starrte sie ihn an. „Das behauptet ihr.“
Hinter ihm stöhnte Thorolf. „Scherereien.“
„Hör auf wie ein Schaf zu blöken, und schau dir das an.“ Er legte Yvaine auf das Fell, entblößte ihren Rücken und hob den Kopf. „Was sagst du nun?“
Thorolf beugte sich vor. „Bei den Runen! Wer hat das getan?“
„Ihr Ehemann. Ich habe ihn getötet.“ Rorik erwartete keine Bemerkung auf seine knappe Erklärung. „Wie soll ich sie in diesem Zustand aussetzen? Sie würde nicht überleben.“ Während er ihr sanft übers Haar strich, fügte er leise hinzu: „Obwohl sie so tapfer ist.“
Thorolf fiel die Kinnlade herunter. Fassungslos starrte er Rorik an, bevor er den Mund wieder zuklappte. „Hm … richtig. Das überlebt sie nicht. Obwohl sie so tapfer ist. Ähm … was hast du gesagt? Wie heißt sie?“
„Yvaine of Selsey.“ Roriks Miene verfinsterte sich. „Sie ist eine entfernte Cousine von König Alfreds Sohn.“
„Alf…“ Das Wort blieb Thorolf im Halse stecken, der sich erschrocken aufrichtete. „Aber … sie ist eine Frau.“
„Ja, du wiederholst dich.“
„Und du denkst, das haben dir die Götter befohlen? Weil sie eine Cousine des Königs der Angelsachsen ist? In Thors Namen, Rorik, was hast du mit ihr vor? Lösegeld? Soll sie noch einmal ausgepeitscht werden? Wollen wir sie nicht lieber doch über Bord werfen?“
Rorik schnellte hoch. „Ich treffe die Entscheidungen. Du hast dich nur darum zu kümmern, dass Othar uns in die richtige Richtung steuert.“
Lange forschend blickte Thorolf seinem Anführer ins Gesicht und hütete sich, das Wort „Scherereien“ ein drittes Mal auszusprechen. Rorik schien nicht in der Verfassung zu sein, sich unheilvolle Ahnungen oder Warnungen anzuhören. Er war im Stand, jedem die Zähne einzuschlagen, der es wagte, ein böses Omen zu äußern.
Aber beim Verlassen des Zeltes begleitete ihn die unangenehme Erinnerung an einen
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