Historical Exclusiv 45
neuen Herausforderer ankündigten.
Der Ritter sank auf einen einfachen hölzernen Stuhl, trank seinen Wein und gab die Hoffnung auf, jemals die Aufmerksamkeit des Knappen lange genug fesseln zu können, um ihn zu lehren, was er wissen musste. Gastons Kopf flog hoch, als er die Menge schreien hörte, und Yves wusste, sein Kampf war verloren.
„Geh“, sagte er ruhig.
Diesen Befehl brauchte er nicht zu wiederholen. Im Handumdrehen war der Knabe verschwunden.
Yves schüttelte den Kopf. War auch er jemals so jung gewesen? Er nippte an seinem Wein und genoss das seltene Alleinsein, während der Herzog und seine Gäste den Wettkämpfen zusahen. Bald hatte er wieder tausend Pflichten und Aufgaben, doch in diesen wenigen Augenblicken genoss er die Strahlen der warmen Nachmittagssonne, die durch die seidenen Zeltbahnen fielen.
Der Wein war kräftig und mit Nelken gewürzt, sein reiches Aroma ein willkommener Genuss nach den Anstrengungen des Tages. Er bewegte seine angespannten Muskeln und dachte über die Erziehung des widerspenstigen Gaston nach.
Selbst wenn man ihm verbieten würde, den Troubadouren zu lauschen, brächte dies wenig, denn der Knabe schien all deren Erzählungen auswendig zu kennen. Er besaß eine unerschöpfliche Fantasie und ein erstaunliches Gedächtnis. Viele – auch Gastons Mutter – glaubten, der Jüngling könnte einen guten Troubadour abgeben.
Doch die Entschlossenheit, die Gaston an den Tag legte, wenn er ein Schwert in der Hand hielt, gab Yves die Gewissheit, dass der Herzog die Zukunft seines Neffen in die richtigen Wege geleitet hatte.
Wenn er nur nicht solch ein hitziges Temperament hätte.
Yves’ Gedanken wurden durch ein Räuspern unterbrochen, das vor dem Zelt zu hören war. Er hob den Kopf und strich sein Leinenhemd glatt, als er sich erhob. Bestimmt übermittelte man ihm die Glückwünsche des Herzogs.
„Wer ist da?“, rief er.
„Chevalier Yves de Saint-Roux?“, fragte eine unbekannte Stimme.
„Ja“, bejahte er mit einem Stirnrunzeln. „Wer fragt?“
„Der Comte de Tulley!“, unterbrach ungeduldig eine zweite Stimme, die für Yves eine unerwünschte Erinnerung an die Vergangenheit war.
Nicht Tulley!
Der Ritter blickte zum Zelteingang, als der eben Genannte eintrat. Die Entspannung, die der Wein gebracht hatte, wich augenblicklich. Er fühlte sich wie ein gespannter Bogen, als ihn ein eiskalter Blick traf, den er nie vergessen hatte.
Der Comte de Tulley war noch immer ein kleiner, drahtiger Mann, auch wenn das Dutzend Jahre, seit sich ihre Wege das letzte Mal gekreuzt hatten, ihm noch mehr Falten beschert hatte. Sein Haar war nun so weiß wie frisch gefallener Schnee, sein Antlitz hager, und seine Hand umklammerte den knorrigen Knauf seines Stockes. Seine Augen blitzten wie feurige Saphire, als er Yves, der sich auf einmal wie ein Junge in Gastons Alter fühlte, musterte.
Es war lange her. Und ihr Abschied war damals alles andere als freundlich gewesen. Ein Gefühl des Zornes, das Yves bisher nicht gekannt hatte, flackerte in ihm auf und begann zu lodern. Er hielt dem Blick des alten Mannes stand und zwang sich, seine gewohnte Ruhe zu zeigen.
Schurkischer alter Intrigant.
Die beiden Männer starrten sich schweigend einen langen Augenblick an, beobachteten die Spuren, die die Jahre bei dem jeweils anderen hinterlassen hatten. Tulleys Diener hatte sich an der Zeltöffnung niedergelassen.
„Ihr habt wacker gekämpft“, sprach Tulley endlich. Seine Worte hatten den gleichen beißenden Unterton, den Yves von früher kannte. Der alte Mann trat einen Schritt weiter in das Zelt und entließ seinen Burschen mit einer Kopfbewegung. „Lass uns allein.“
Dieser gehorchte nicht sogleich. „Aber, Herr …“
„Geh!“ Tulley wandte sich nicht einmal um, als er den Befehl erteilte. Die Augen seines Dieners wurden groß, dann stürzte er aus dem Zelt und schloss eilig den Eingang hinter sich.
Und Yves war alleine mit jenem Mann, den er nie wieder zu sehen gewünscht oder erwartet hatte. Wie konnte er es wagen, hierher zu kommen und die Gespenster der Vergangenheit erneut zu wecken!
Doch Tulley – so hatte er vor langer Zeit lernen müssen – war ein Mann, der die ganze Welt zu seinem Vorteil bewegen konnte, gleichgültig, wie viel es ihn kostete. Für den Comte waren alle nur Figuren in einem Spiel, die er nach seinem eigenen Gutdünken verschieben konnte.
Er klopfte mit dem Krückstock auf den Boden, als er näher trat. Sein abschätzender Blick las
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