Historical Exclusiv 45
Yves.“ Sein Name kam erst zögernd über ihre Lippen, doch sie zwang sich, in einem vertraulichen Ton weiterzureden. „Sollen wir uns später treffen?“
„Nach dem abendlichen Mahl.“ Seine Stimme blieb sachlich. „Ich werde in der Halle auf Euch warten, Euren Ritter treffen, und dann werden wir einen Ort vereinbaren, an dem wir miteinander sprechen können.“
Wir. Gabrielles Herz pochte laut bei dem Gedanken, in seine Pläne mit einbezogen zu werden, aber sogleich rief sie sich wieder zur Ordnung.
Der Ritter – Yves – war ein Mann, dessen Handeln nur von Vernunft bestimmt war. Er wollte erfahren, was sie wusste, was sie bei dem Angriff gesehen hatte, woran sie sich erinnerte. Dann würde er sie von seinen Plänen ausschließen, denn wie jeder Mann nahm er wohl an, dass sie zu deren Gelingen nichts beitragen konnte.
Er war nicht anders als die anderen.
„Gut“, entgegnete sie und hoffte, dass er ihre Enttäuschung nicht hören konnte. „Ich werde Euch dann sehen.“
Der Chevalier schien noch etwas sagen zu wollen, aber Gabrielle war es nun wichtig, diese verwirrende Begegnung zu beenden. Sie hatte nicht vorgehabt zu weinen – Tränen waren etwas für schwache Frauen –, und sie hatte nicht erwartet, wie sehr dieser standhafte Ritter sie aus der Ruhe bringen konnte.
Das Treffen hatte jedoch gebracht, was sie erhofft hatte, und ohne Zweifel würden sich die Dinge entwickeln wie geplant.
Sie wandte sich ab, um zu den Festgästen zurückzukehren, und spürte Yves’ Blicke, die ihr folgten.
Nächstes Mal wollte sie einem Treffen mit ihm besser gewappnet gegenüberstehen. Sie wäre nicht überrascht, wenn die Anziehungskraft, die der Ritter auf sie ausübte, bei näherem Kennenlernen rasch schwinden würde.
Das hoffte sie zumindest von ganzem Herzen.
Yves musste immer an den Jungen denken.
Er schritt in seinem Zelt auf und ab, nippte an seinem Wein, doch er konnte den Anblick von Gabrielle nicht vergessen, der die Sorge um ihren Sohn ins Gesicht geschrieben stand. Der Abend brach herein, dunkle Schatten erfüllten das Zelt, aber er schritt weiter auf und ab, ohne ein Licht zu entzünden.
Gabrielle de Perricaults Bitten für ihren Sohn hatten ihn tief berührt, sodass er schließlich diesen Auftrag annahm. Die Geschichte des Knaben, der, von seiner Mutter getrennt, ein Pfand in einer Fehde war, erinnerte ihn an sein eigenes Schicksal.
Zu gleicher Zeit missfiel es ihm jedoch, dass er keine Kraft gefunden hatte, Gabrielle zu widerstehen, sobald er von der misslichen Lage des Knaben erfuhr.
Seine Vernunft war von Gefühlen verdrängt worden, zum ersten Mal in seinem Leben. Er verzog das Gesicht und stellte den Wein beiseite.
Daran trug Tulley die Schuld.
Als die Glocke zum Abendessen das erste Mal ertönte, merkte er, wie spät es war. Missmutig stellte er fest, dass er die Zeit vertan hatte, anstatt zusammen mit dem Herzog Vorkehrungen zu treffen.
Das sah ihm, der sonst so überlegt und vernünftig war, nicht ähnlich!
„Gaston!“
Yves rief ein zweites Mal, doch sein Knappe hatte offenbar andere Dinge im Kopf, anstatt seinen Pflichten nachzukommen. Er lauschte angestrengt, aber leider vergebens, auf Gastons Schritte. Er fand sich – wieder einmal – damit ab und griff ungeduldig zu seinen Kleidern.
Er kannte den Knaben gut genug, um zu wissen, dass dieser keine Mahlzeit ausließ. Er verließ das Zelt und pfiff noch einmal nach ihm, obgleich er sich der Sinnlosigkeit seines Tuns bewusst war.
Der zarte Streifen der untergehenden Sonne am Horizont erinnerte ihn plötzlich an den Schatten in Gabrielles violetten Augen. Er dachte daran, wie verletzlich sie ausgesehen hatte, als sie von ihrem Sohn sprach.
Der kleine Thomas besaß etwas, das mehr wert war als alles Gold von Perricault. Er konnte sich der Liebe und des Schutzes seiner Mutter gewiss sein.
Yves hatte nie solch eine Sicherheit gehabt.
Wie anders wäre wohl sein eigenes Leben verlaufen, hätte sich jemand so leidenschaftlich um sein Wohlergehen gekümmert, wie diese Frau es für ihren Sohn tat. Gewiss hatte er, Yves, seinen Weg im Leben gemacht, doch um wie viel leichter wäre es gewesen, hätte er sich in dunklen Stunden der Verzweiflung an jemanden wenden können.
Was hätte er darum gegeben, jemals auch nur das Gesicht seiner Mutter zu sehen? Alles, was er von ihr wusste, war ihr Name, Eglantine.
Als er gedankenverloren in den Himmel starrte, wurde eine Sehnsucht in seinem Herzen wach, die für ihn so fremd war
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