Historical Exclusiv 45
ließ Rorik ihren Arm los, drehte ihr ruckartig den Rücken zu und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann starrte er mit geballten Fäusten aufs Meer hinaus.
Yvaine wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Seine dunkle Silhouette vor der rötlich goldenen Sonnenscheibe, die am Horizont im Meer versank, sein Rücken, der sich von breiten Schultern bis zu schmalen Hüften verjüngte … Der Hüne war der Inbegriff unbesiegbarer Kraft.
„Ich bin ins Landesinnere gegangen, um ein Gewand für Euch zu besorgen“, sagte er so plötzlich, dass sie vor Schreck zusammenfuhr. „Aber da war niemand. Das ganze Dorf war verlassen.“
Sie wog Trotz und Vorsicht gegeneinander ab. „Die Dänen sind geflohen? Wen wundert’s?“
„Nicht die Dänen, die Angelsachsen.“ Er wandte sich ihr zu. „Im Danelag leben Angelsachsen, mit denen wir Handel treiben.“
„Ihr versetzt mich in Erstaunen.“
Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Gesichtszüge. Dann hielt er den Blick wieder auf sein Schiff gerichtet, und eine seltsame Stille senkte sich über den Abend. Beinahe friedlich, dachte sie. Die Schaumkronen der Brandung benetzten den Strand. Eine einsame Möwe spazierte am Wasser entlang, hinterließ ein filigranes Muster im nassen Sand. Weiter oben in den Dünen brannte ein Lagerfeuer, dessen Flammen sich kaum vom goldenen Himmel abzeichneten.
Sie hob das Gesicht und atmete die laue Luft tief ein, ließ die friedvolle Stimmung des goldenen Sonnenuntergangs auf sich wirken. Einen flüchtigen Augenblick konnte sie sich vorstellen, auf einer Seereise zu sein … ihr Entführer war ihr Begleiter, ihr Beschützer, ihr stolzer Ritter.
Dann drehte sie den Kopf, begegnete seinem Blick, und ein spitzer Pfeil durchbohrte ihr Herz, der nichts mit Geborgenheit und Sicherheit zu tun hatte. „Hat mein Bruder Euch verletzt?“, fragte er leise.
Sie verdrängte die befremdliche Empfindung und lachte trocken. „Gütiger Himmel, nein. Er hat mir höchstens ein paar Haare ausgerissen, mehr nicht.“
Er lächelte und ließ die Finger über ihren Zopf gleiten, der ihr über die Schulter hing.
Sie schlug ihm auf die Hand. „Euer Bruder macht mir keine Angst. Er ist ein flegelhafter Grünschnabel, weiter nichts.“
„In Norwegen gilt ein Zwölfjähriger bereits als Mann. Othar ist sechzehn. Er ist kein Kind mehr. Bedauerlicherweise hat seine Mutter ihn hoffnungslos verhätschelt. Er denkt, er könne sich Frauen gegenüber alles erlauben.“
„Pah. Das scheint in der Familie zu liegen.“
„Meine Mutter starb bei meiner Geburt“, sagte er leise. „Als mein Vater Gunhild zur Frau nahm, war ich zehn. Und sie hat mich wahrlich nicht verwöhnt.“
„Ähm, nun ja…“ Hastig verdrängte sie das Bild eines mutterlosen kleinen Jungen. „Dann war es wohl Euer Vater, der Euch in der Vorstellung erzogen hat, Mord und Entführung seien ein angenehmer Zeitvertreib im Sommer.“
„Als junger Mann ging Egil häufig auf Plünderfahrt“, gestand er offen mit einem belustigten Funkeln in den Augen. Dann wurde er wieder ernst. „Aber nun ist er sehr krank. Er wird diesen Sommer nicht überleben.“
„Dann frage ich mich, wieso Ihr ihn allein gelassen habt.“ Sie hatte beabsichtigt, kritisch und vorwurfsvoll zu klingen, stattdessen klang ihre Stimme weich, beinahe mitfühlend. Sie hätte sich dafür ohrfeigen können.
Nach einem prüfenden Seitenblick runzelte er die Stirn und nahm ihren Arm. „Es ging um ein Versprechen, das ich einzulösen hatte. Kommt, Ihr braucht etwas zu essen und Ruhe. Höchste Zeit, aufs Schiff zu gehen.“
Und damit zerstob der flüchtige Zauber. Gefügig ging Yvaine neben ihm her. Erst später in der Nacht, als sie auf dem Bärenfell lag, tobte ein wirrer Aufruhr in ihren Gedanken. Fluchtpläne verhedderten sich hoffnungslos mit Fragen, auf die es keine Antworten gab. Aus einem unerfindlichen Grund dachte sie immer wieder an die friedliche Stimmung, in der sie beinahe so etwas wie Freundschaft mit Rorik im Sonnenuntergang am Meer verbunden hatte. Sie wusste, dass auch er es so empfunden hatte, da sein Zorn genauso rasch verflogen war wie der ihre.
Aber sie durfte niemals vergessen, dass er ein Heide, ein Barbar war. Er hatte ihre Flucht in die Freiheit vereitelt, für die sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
Und er hatte noch etwas getan – das wurde ihr in diesem Augenblick in aller Deutlichkeit klar. Etwas, das ihr Herz zum Stillstand brachte, etwas weitaus Bedenklicheres als alles andere.
Weitere Kostenlose Bücher