Historical Exclusiv 45
Etwas, was sie nicht für möglich gehalten hatte.
Er hatte sie wieder zum Leben erweckt.
Und mit einem Mal war ihre Flucht dringender, unausweichlicher geworden als je zuvor.
5. KAPITEL
D urchsichtige Schleierwolken zogen geisterhaft über das Rund des Mondes.
Yvaine huschte aus dem Zelt und blickte zum Himmel. Der dunstige Schein kam ihr in ihrer Beklommenheit heller als ein Leuchtfeuer vor. Wenn sie aber wartete, bis die Nacht dunkler wurde, würde sie vor dem Morgengrauen höchstens eine Meile in den Wald eingedrungen sein.
Sie drückte sich in den Zeltschatten und verdrängte den Gedanken, was passieren würde, wenn einer der schlafenden Männer auf den Deckplanken erwachte und sie entdeckte.
Aber es blieb ihr keine Wahl. Sie musste sich an ihnen vorbeischleichen. Das Schiff war mit dem Bug voran an Land gezogen. Wenn sie an dieser Stelle die hohe geschwungene Schiffswand erklomm und in den knirschenden Kies sprang, würden die Wachen am Strand sie gewiss hören oder sehen.
Die ersten Schritte bis zu den Schlafenden waren gefahrlos. Und dann konnte sie nur beten und hoffen, die Geräusche ihrer Schritte würden im lauten Schnarchen untergehen.
Mit angehaltenem Atem, in banger Furcht, jeden Moment könne ein Arm vorschnellen, eiserne Finger ihren Fußknöchel umspannen, schlich sie lautlos auf Zehenspitzen. Ihr Ziel war die Mitte des Schiffs, dort wo die Bootswand tief genug war, um sich außen am Rumpf ins Wasser zu lassen. Dann wollte sie die Küste entlangschwimmen, bis sie in sicherer Entfernung an Land gehen konnte.
Weiter hatte sie nicht gedacht, weiter wollte sie nicht denken. Sich lautlos durch die Nacht zu schleichen, erforderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Nur in einem tiefen Winkel ihres Bewusstseins spürte sie etwas wie Bedauern.
Sie verdrängte das Gefühl und zählte ihre Schritte. Noch drei oder vier …
Ein lautloser Schatten tauchte aus dem Nichts auf. Eine Hand hielt ihr den Mund zu, ihr Rücken wurde an einen harten Männerkörper gedrückt. Im Mondschein glänzte die Klinge eines Dolches kalt und todbringend nah an ihrem Herzen.
„Kein Wort“, knurrte eine leise Stimme an ihrem Ohr. „Sonst schlitze ich dir die Kehle auf.“
Sie hätte kein Wort hervorgebracht, konnte nicht einmal atmen. Der Mann war nicht Rorik – das war der einzige Gedanke, zu dem sie fähig war.
Sie wurde über die Bootswand gehoben, das Wasser umspülte ihre Beine. Die See war warm im Vergleich zur eisigen Kälte, die sich in ihr ausbreitete.
Warum rührte sich keiner? Hätte sie nur ein Zehntel des Lärms gemacht, den ihr Angreifer machte, hätte sich die ganze Mannschaft auf sie gestürzt. Aber alle schnarchten seelenruhig weiter.
Sie musste klar denken. Wohin wollte der Kerl mit ihr? Er rannte mit ihr die Dünen hinauf, weg von den Wachposten, außer Sicht- und Hörweite. Er blieb stumm, nur sein Keuchen war zu hören. Hastige, kurze Atemzüge. Und plötzlich gaben ihr die erregten Atemzüge die Erklärung.
Der Kerl hinderte sie nicht nur an der Flucht, seine Absichten waren weitaus bedrohlicher.
Sie musste jetzt handeln. Ihr linker Arm war im Griff des Wikingers gefangen, doch der andere war frei. Sie stieß ihm den Ellbogen mit aller Kraft in die Rippen und schlug gleichzeitig wild mit den Beinen um sich.
Auf diesen plötzlichen Angriff war er nicht gefasst. Seine Hand gab ihren Mund frei, und sie holte Luft, um zu schreien. Zu ihrem Entsetzen entrang sich ihrer Kehle nur ein Krächzen. Bevor sie noch einmal Luft holen konnte, schnürte der Angreifer ihr die Kehle zu.
Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Ihr wurde schwarz vor Augen. Benommen spürte sie, wie der Wikinger sie in den Sand warf, spürte das Gewicht seines Körpers auf sich, wie er an ihrem Wams zerrte. Ein Bild des Schädelspalters schoss ihr durch den Sinn. Sie würgte vor Ekel. Und dann erlahmte sie. Er dachte wohl, sie habe das Bewusstsein verloren und löste seinen Würgegriff von ihrer Kehle.
Diesmal zerschnitt ihr gellender Schrei die Stille der Nacht.
Der Mann, der auf ihr lag, stieß wilde Flüche aus. Und als ein Ruf vom Schiff ertönte, sprang er auf und verschwand in der Dunkelheit, so schnell und lautlos wie er sie überfallen hatte.
Yvaine legte sich gekrümmt zur Seite und schlang die Arme um ihre angezogenen Knie. Ihre Zähne klapperten, sie schlotterte am ganzen Körper. Sie müsste etwas tun, aber sie wusste nicht mehr, was es war. Und als sie sich wieder daran erinnerte, bot ihr die Nacht keinen Schutz mehr.
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