Historical Exclusiv 45
aus.
„Habt Ihr geschlafen letzte Nacht?“, fragte sie weich und spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen flog. Sie musste wahnsinnig sein. Fürsorge und Anteilnahme gehörten nicht zu ihrem Plan, die Freiheit zu gewinnen.
Der tiefe Zug um seine Mundwinkel glättete sich. „Ich lege mich aufs Ohr, sobald Wind aufkommt und wir Segel setzen können“, antwortete er. „Es dauert nicht mehr lang, bis wir die Küste von Jütland sichten.“
„Du bist und bleibst ein Optimist“, warf Thorolf ein und beäugte den Sonnenstein.
Yvaine wandte sich ihm zu. „Ist es noch weit?“
„Eine gute Frage“, antwortete er düster. „Das wissen vielleicht Odins Raben. Ich weiß es jedenfalls nicht.“
„Du hast sie schon einmal erwähnt“, rief sie eifrig. „Ich dachte, ich höre nicht recht. Du sprichst von Hugin und Mugin, stimmt’s?“
„Gedanken und Erinnerung“, murmelte Rorik. „Wie ich sehe, kennt Ihr die Legenden über die Raben, Lady. Sie fliegen jeden Tag um die Welt und kehren jede Nacht zurück, um Odin zu berichten, was sich alles ereignet hat. Deshalb weiß er alles über uns Menschen.“
„Unser christlicher Gott ist allwissend“, entgegnete sie spitz. „Er ist nicht auf die Hilfe von zwei Rabenvögeln angewiesen.“
Roriks Augen wurden schmal.
„Da wir von Göttern sprechen, ich bete am liebsten zu Thor“, erklärte Thorolf hastig. „Er ist unsere beliebteste Gottheit. Es gibt auch noch Freyr und Freya, die Zwillingsgottheiten der Fruchtbarkeit, die uns reiche Ernten bringen. Loki ist ein Schelm und Unruhestifter. Aegir ist der Meeresgott, seine Töchter sind die Wellen – launisch wie alle Frauen. Ihr solltet Euch an Freya wenden, Lady.“ Er deutete mit dem Finger auf Roriks Amulett, das Yvaine sich um den Hals gebunden hatte, um es nicht zu verlieren. „Thor passt irgendwie nicht zu Euch.“
Rasch streifte sie die Lederschnur mit dem silbernen Hammer vom Hals und gab sie Rorik. Er nahm das Amulett und hielt dabei ihre Hand fest.
Thorolf beschäftigte sich wieder mit dem Sonnenstein und zeigte ihn den anderen Frauen. Yvaine konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, er wolle sie und Rorik nicht stören.
„Thorolf hat Recht“, sagte Rorik leise und strich mit dem Daumen über ihre Knöchel. „Freya ist die richtige Göttin für Euch.“
„Aha?“ Die Berührung seines schwieligen Daumens beschleunigte ihren Puls. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. Vergeblich. „Und aus welchem Grund?“
„Freya wird stets von Katzen begleitet, und Euer Fylgja ist mit Sicherheit eine Katze.“
„ F…Fylgja?“ Sein Daumen wanderte zur Innenseite ihres Handgelenks. „Ach ja, ein Tiergeist.“
„Ein Tiergeist, der Euch auf jedem Schritt begleitet“, erklärte er. „Aber Freya ist auch die Göttin der Liebe.“
Ein kehliger Laut entfuhr ihr. Rorik spürte, wie ihr Pulsschlag unter seinem Daumen aussetzte, um heftiger weiterzuschlagen. Er bezähmte den Drang, seinen Griff zu festigen. Er wünschte, ihre Augen sehen zu können, aber Yvaine hielt die Lider gesenkt, das Gesicht halb abgewendet. Sie schien keine Angst vor ihm zu haben, sondern wirkte eher unschlüssig, als stehe sie vor einem Abgrund.
Erwachendes Verlangen und argwöhnische Unschuld, dachte er. Gab es eine quälendere Mischung, um einem Mann den Verstand zu rauben? Sie nur mit der leichten Berührung seiner Finger zu halten, bereitete ihm süße Qualen. Er wollte sie beruhigen, sie in die Arme nehmen und besänftigen, und gleichzeitig lechzte er danach, sie an sich zu ziehen, ihr die Kleider vom Leib zu reißen und ihre zarte Nacktheit mit Blicken zu verschlingen. Er würde sie zunächst sehr behutsam streicheln, bis die weichen Rundungen ihrer Brüste in seinen Händen schwollen, die rosigen Knospen sich reckten vor Verlangen nach der Berührung seiner Lippen. Und dann …
Der polternde Lärm von weggeworfenen Rudern riss ihn gewaltsam aus seinen Tagträumen.
Ein paar Männer waren aufgesprungen und rannten zu zwei anderen, die mittschiffs in einer erstarrten Kampfposition dicht beieinander standen. Es waren Ketil und Orn, die einander feindselig maßen.
Rorik stieß einen wilden Fluch aus und rannte los. Doch im gleichen Moment kam Bewegung in Ketil, er stieß Orn von sich. In seiner Faust hielt er einen Dolch, an dessen Klinge frisches Blut glänzte.
Orn sackte vor Ketil in die Knie, rosiger Schaum trat ihm aus den Mundwinkeln. Eine Hand krallte sich in seinen Brustkorb.
Ein toter Mann, dachte Rorik, Zorn
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