Historical Exclusiv 45
einen erstickten Schrei. Sie hob den Kopf, versuchte das Halbdunkel, die sprühende Gischt mit Blicken zu durchdringen. Vergeblich. Sie konnte sich nur vorstellen, wie Rorik am Steuerruder stand, schutzlos den Elementen ausgeliefert, konnte nur hoffen, dass ihn die Kräfte im Kampf gegen die tosende See nicht verließen.
Yvaine fügte sich in ihr Schicksal, kauerte sich tiefer unter den Mast und war endlich fähig, sich auf ihre Gebete zu konzentrieren.
Den ganzen Vormittag hatte kein Windhauch die Luft bewegt. Nach der Gewalt des Sturms war diese völlige Windstille gleichermaßen unheilvoll.
Obwohl die Mannschaft die halbe Nacht Wasser aus dem Boot geschöpft hatte, wurde in wechselnden Schichten gerudert, seit der Morgen über einer spiegelglatten See herangedämmert war. Es wurde wenig gesprochen. Keiner war zu Scherzen aufgelegt, keiner wollte Geschichten von früheren Seefahrten zum Besten geben. Nur gelegentlich kamen bissige Bemerkungen von Othar und seinen Freunden. Rorik suchte den bedeckten Himmel mit finsteren Blicken ab. Er nahm sich vor, seinen Bruder zur Rede zu stellen. Die Mannschaft war mürrisch. Schlaflosigkeit und die unheimliche Stille zerrten an den Nerven aller, aber Othars Murren erhöhte die gereizte Stimmung unnötig, die über dem Schiff lag.
Sein Blick richtete sich auf Yvaine, die auf der Seekiste saß und sich mit Thorolf unterhielt – der sich besser aufs Navigieren konzentrieren sollte. Die anderen Frauen saßen an das Schott gelehnt, das Kind zwischen sich. Die Anwesenheit der Frauen im Heck, den Blicken der Männer preisgegeben, solange das Zelt trocknete, trug gewiss nicht zur Entspannung bei. Aber nach dem Sturm wollte er Yvaine in seiner Nähe haben, wodurch seine Laune sich allerdings auch nicht aufhellte.
Sie hatte den ganzen Vormittag kaum ein Wort mit ihm gesprochen, legte aber ein eifriges Interesse für die Seefahrt an den Tag. Und Thorolf ermutigte sie auch noch darin.
Verärgert verzog er das Gesicht. „Wie ist unser Kurs?“, fragte er den Freund, der einen gelblichen Stein zur Hand nahm. Ja, konzentriere dich auf das Steuer, das war vernünftiger, als törichten Fantasien über die goldäugige Zauberin nachzugehen, und dem Wunsch, sie möge sich an ihn schmiegen wie letzte Nacht, als er ihren weichen süßen Mund geplündert hatte.
„Gleich bleibend Nordost.“
„Woher willst du das wissen, ohne Sonne?“, fragte Yvaine und beäugte neugierig den Stein, den Thorolf ihr hinhielt.
„Seht Ihr, wie die kristallinen Einsprengsel sich blau färben, wenn ich ihn nach Osten halte? Sie fangen das Licht der Sonne auf, obwohl man sie an einem bedeckten Tag wie heute nicht sehen kann. Der Sonnenstein sagt uns, dass wir auf dem richtigen Kurs sind.“
„Ja, aber ich möchte schneller ans Ziel kommen“, brummte Rorik.
Seine tiefe Stimme jagte Yvaine einen Schauer über den Rücken, den er hoffentlich nicht bemerkte. Sie hatte auch gehofft, die schockierenden Gedanken, die sie während des furchtbaren Sturms gepeinigt hatten, würden mit dem Morgengrauen verschwunden sein.
Doch das helle Licht des Tages erwies sich als wirkungslos. Die quälende Vorstellung, sich ihm hinzugeben, spukte ihr immer noch im Kopf herum. Und obgleich sie sich einredete, die Todesangst habe ihren Geist vorübergehend verwirrt, ließen sich die Bilder nicht verscheuchen: Roriks breite Schultern, die den Mond verdeckten, als er am Strand über ihr gekniet war. Die gezügelte Kraft seines muskelbepackten Körpers, als er sie in den Sand gedrückt hatte. Sein Mund, der zu necken verstand, und im nächsten Moment mit einer Heftigkeit Besitz ergriff, die jeden Gedanken an Widerstand lähmten, bis sie sich nichts sehnlicher wünschte, als ihm zu gehören.
Wahnsinn. Es musste Wahnsinn sein. Ihr Verstand gaukelte ihr Trugbilder vor, verlockte sie, sich hinzugeben, weil sie keine andere Wahl hatte. Nein, es gab immer eine andere Wahl. Sie konnte kämpfen. Sie konnte sich in die Rolle der Märtyrerin flüchten. Sie konnte die letzte Möglichkeit der Flucht ergreifen, die der Tod ihr bot.
Als wäre ich dazu noch fähig, schalt sie sich in bitterer Selbstironie. Hätte einer wie Ketil sie entführt, würde sie nicht zögern, aber … Sie blickte zu Rorik auf, und ihr wurde warm ums Herz. Nein, der Tod war kein Ausweg. Mittlerweile zweifelte sie sogar daran, ob sie sich gegen diesen Mann zur Wehr setzen könnte. Er war stark und hart, aber er hatte auch menschliche Züge. Und er sah todmüde
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