Historical Exclusiv 45
Seedrache durch die Wasserberge pflügte.
Tief gebückt gegen den Sturm kämpfend, erreichten beide die Mitte des Schiffs, wo der Mast umgelegt worden war. Im Halbdunkel nahm sie Gestalten wahr, die unter dem Mast kauerten. Rorik schob Yvaine nahe zu den anderen Frauen und sicherte sie mit einem Tau, das er um ihren Körper wand und am Mast festzurrte.
„Bleibt möglichst weit unter dem Mast“, brüllte er. „Und hier, nehmt das.“
Er krümmte ihre Finger um ein Metall. Yvaine warf einen kurzen Blick darauf. Thors Hammer. Von oben betrachtet glich das Amulett einem Kreuz.
„Haltet ihn, wie Ihr wollt“, sagte Rorik, der ihrem Blick folgte. „Und betet zu Eurem Christengott. Wir brauchen jede erdenkliche Hilfe.“
Sie hob den Kopf, ein seltsames Sehnen zerrte an ihrem Herzen. Ein grelles Netzwerk aus Blitzen durchzuckte das Dunkel des Himmels, der Sturm peitschte ihm das Haar ins Gesicht. Sein Mund war ein schmaler Strich im kantigen Gesicht, in seinen Augen flackerte der helle Widerschein der Blitze.
So würde sie ihn immer in Erinnerung behalten. Einen unerschrockenen Hünen, der gegen die Naturgewalten kämpfte, um die Menschen auf diesem Schiff zu retten.
Er berührte flüchtig ihre Wange und war fort.
Benommen kroch Yvaine tiefer ins Dunkel, als sei sie vom Blitz getroffen. Ein Blitz, der ihr Innerstes aufriss und ihre Seele entblößte – und mit einem Mal senkte sich eine Ruhe über sie, eine klare Erkenntnis.
Im nächsten Moment wurde sie von der Sturmgewalt wieder in die Gegenwart geholt, sie versuchte sich so klein wie möglich zu machen, drückte den Rücken gegen das harte Holz, als wolle sie eins mit ihm werden. Der Mast und die eingefettete Lederhaut schützten halbwegs vor den Wassermassen, doch das Branden der kochenden See unter dem Schiffsrumpf ließ die Planken knarren und knirschen, und sie fürchtete, der Boden würde jeden Moment bersten. Benommen entsann sie sich, dass die nordischen Schiffe durch ihre flexible Bauweise bei rauer See nicht auseinander brachen und zersplitterten.
Die Wucht des Aufpralls, als das Boot in ein Wellental sauste, löschte alles Denken in ihr aus. Sie krallte sich am Tau fest, und im nächsten Augenblick sauste das Schiff den nächsten Wellenkamm hinauf, um wieder wie ein Schlitten in den Abgrund zu schießen. Der Lärm war ohrenbetäubend. In Sturzbächen strömte die Flut vom Himmel, die Luft wurde immer wieder von lohenden Blitzen taghell erleuchtet, und das Dröhnen des Donners erstickte das Krachen der Wogenberge.
Yvaine versuchte zu beten, während sie sich fragte, ob Gott in seiner Gnade bereit war, vierzig Heiden beizustehen, diesen Sturm zu besiegen, nur um vier Christinnen vor ihrem nassen Grab auf dem Meeresgrund zu bewahren. Sie erflehte inständig seinen Beistand, war noch nicht bereit zu sterben. Sie wollte dieses Abenteuer fortsetzen. Sie wollte …
Ihr Verstand setzte aus. Diesmal waren weder Blitz noch Donner dafür verantwortlich. Und als sie wieder denken konnte, nahm sie das Wüten des Sturmes kaum noch wahr.
Was wollte sie? Wollte sie wissen, was sie empfand, wenn sie mit Rorik das Bett teilte? Sehnte sie sich nach mehr, nicht nur nach seinen Küssen, seiner Umarmung, die ihr das Gefühl gaben, er wolle sie nie wieder loslassen – obgleich er sie nur körperlich begehrte?
Und dennoch … sein Begehren löste ein sündiges Prickeln in ihr aus. Sein Lächeln, das sie quälte, lockte, verführte. Und dann drängte sich eine tückische Frage in den Vordergrund, als habe sie nur auf diesen Moment gelauert, auf diesen Augenblick höchster Gefahr, in dem ihre Abwehr zutiefst erschüttert war.
Was wäre so verwerflich daran? Sich ihm hinzugeben? Nur ein einziges Mal. Zu erfahren, was es bedeutete, begehrt zu werden? Sie würde sich nicht einem gewalttätigen brutalen Kerl hingeben. Rorik besaß tiefere Werte, die sie faszinierten. Und aus welchem Grund sollte sie sich ihre Unschuld bewahren? Sie hatte ihre Pflicht erfüllt. Sie war Witwe. Und da sie es vorzog, von den Brechern über Bord gespült zu werden, als ein zweites Mal an einen Ehemann gekettet zu werden, wer sollte davon erfahren? Wen würde es interessieren?
Der nächste Wellenberg, der über dem Mast hereinbrach, holte sie mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Bevor sie einen Gedanken an ihre Zukunft verschwendete, mussten Rorik und die Menschen auf diesem Schiff diesen Sturm überleben. Er befand sich in weit größerer Gefahr als sie.
Dieser Gedanke entrang ihr
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