Historical Exclusiv 45
Rückhalt in diesem fremden Land gewesen, ein Umstand, der ihre Abhängigkeit von ihm noch verstärkt hätte.
Und plötzlich schoss ihr ein anderer Gedanke durch den Sinn. Nach Othars schmachvoller Beschimpfung wollte er ihr möglicherweise eine Dienerin geben, die bezeugen konnte, dass sie nicht belästigt worden war, wenn er die Absicht hatte, sie unbeschadet nach England zurückkehren zu lassen.
Ein Stich, der sich beinahe anfühlte wie Enttäuschung, durchbohrte sie, dem augenblicklich Selbstvorwürfe folgten. Was war eigentlich mit ihr los? Wollte sie etwa hier festgehalten werden? Wollte sie genommen werden, bevor sie bereit war zu geben?
Nein. Unterwerfung war nicht gleichbedeutend mit Hingabe. Rorik würde sie zu nichts zwingen, davon war sie mittlerweile überzeugt.
Aber wenn er sie immer noch begehrte, wie lange würde sie seinen Verführungskünsten widerstehen können? Wenn er sie mit Güte und Zuvorkommenheit behandelte, wie lange würde sie standhaft bleiben, da ihre Empfindungen bereits in Aufruhr waren? Worauf wartete sie eigentlich? Was wollte sie?
„Lady?“
Yvaine riss sich aus ihren Grübeleien.
„Das kommt nur davon, weil ich ihm zu wenig Fragen gestellt habe“, erklärte sie hitzig. „Aber er wird bald begreifen, dass ich keine Entscheidung treffe, bevor er mir keine Antworten auf meine Fragen gegeben hat.“ Ohne auf Annas verdattertes Gesicht zu achten, eilte sie aus dem Zelt.
„Aber Lady, die neuen Kleider. Wartet …“ Anna sprach ins Leere.
Ihr Blick erfasste seine Gestalt. Er lehnte dort, wo der Bootsrand zum geschwungenen Bug ansetzte. Seine Haltung war keineswegs gelöst. Er hatte die Arme aufgestützt, seine Hände hielten den Bootsrand mit festem Griff umfangen, seine innere Spannung war direkt greifbar. Doch das war nicht der Grund, warum Yvaine wie angewurzelt stehen blieb. Die Verblüffung nahm ihr den Atem.
Er hatte Kettenhemd und Eisenhelm abgelegt, auch die goldenen Armreifen fehlten. Rorik trug zwar sein Schwert, dennoch hatte sich der Furcht einflößende Wikingerkrieger wie durch Zauberhand in einen nordischen Edelmann verwandelt. Er trug hellbraune Wollhosen, die seine kraftvollen Beine eng umschlossen, und geschnürte hohe Stiefel. Darüber eine rote Tunika aus feiner Wolle, verziert mit Borten aus reicher Goldstickerei. Über der linken Schulter wallte ein Umhang aus blauem Samt. Ihr Blick wanderte von seinen breiten Schultern nach oben.
Das Sonnenlicht ließ sein frisch gewaschenes Haar schimmern, und sein Profil hob sich scharf vom Hintergrund der grünen Hügellandschaft ab. Er war atemberaubend schön und kraftvoll und sehr einschüchternd.
Und mit einem Mal wurde sie sich ihres schäbigen Aussehens bewusst. Sie kam sich vor wie ein Lumpensack, den man aus dem Wasser gefischt hatte.
Sie machte einen Schritt nach hinten und stieß gegen ein liegen gebliebenes Ruder. Rorik richtete sich auf und fuhr herum.
Sein Blick heftete sich auf sie, und die Fragen, die ihr im Kopf herumschwirrten, waren vergessen. In seinen Augen loderte brennendes, kaum gezähmtes Verlangen. Sie konnte nicht mehr denken, nicht mehr atmen, war zu keiner Bewegung fähig. Sie wusste nur eins: Rorik hatte das ganze Ausmaß seines Verlangens nach ihr während der Seereise unterdrückt. Er hatte sie zwar in den Armen gehalten und sie geküsst, doch diese Glut in seinen Augen jagte ihr Todesangst an. Sie blickte in die hungrigen Augen eines Mannes, der es kaum erwarten konnte, das Festmahl, das für ihn bereitet war, zu verschlingen.
„Ich … ich wollte mich bedanken für Anna, aber …“
Er war in zwei langen Sätzen bei ihr und nahm ihren Arm, bevor sie sich zurückziehen konnte.
„Und … ich freue mich, dass Eldith bei Britta bleiben darf“, stammelte sie.
„Es tut mir Leid, dass Ihr gestern zusehen musstet, wie zwei Männer gewaltsam starben.“
Sie blinzelte. Gestern? Sie konnte sich kaum an gestern erinnern. Die Empfindungen, die im Augenblick auf sie einstürmten, lähmten ihr Denkvermögen. „Es tut Euch Leid?“
Er lachte trocken. „Ketil hat den Tod verdient. Aber das alles hätte nicht geschehen dürfen. Ich wusste, dass es zwischen Orn und ihm böses Blut gab, aber … ich war unvorsichtig und ließ mich ablenken.“
Yvaine war sich seiner Gefährlichkeit deutlich bewusst, spürte aber auch etwas anderes, was sie nicht begreifen konnte. „Ihr hättet es nicht verhindern können. Ich hörte, was gesprochen wurde. Niemand ahnte, was Ketil vorhatte, bis er das
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