Historical Exclusiv 45
als jemand über den Bootsrand auf die Planken sprang, ließ die beiden auseinander fahren. Rorik riss den Kopf hoch, seine Hände fielen auf ihre Schultern.
„Störe ich etwa?“ In Othars Stimme lag beißender Spott.
Yvaine hörte seine Frage wie durch einen dichten Nebel. Sie spürte Roriks Blick auf sich ruhen, zermürbend durchdringend. Dann nahm er die Hände von ihr, drehte sich um und schützte sie vor den Blicken seines Bruders.
„Gut, dass du da bist, Othar“, sagte er seelenruhig, ohne auf seinen Spott einzugehen. „Ruf die Männer zusammen. Ich will Einervik noch heute erreichen.“
„Heute noch? Aber auf mich wartet ein Mädchen und …“
„Es wird endlich Zeit, dass du dich beherrschen lernst!“
Sein schneidender Tonfall riss Yvaine aus ihrer Benommenheit. Sie trat einen Schritt nach hinten, um Zuflucht im Zelt zu suchen. Doch dann sah sie Othars Gesicht und erstarrte.
„Mich beherrschen?“, schrie er mit verzerrtem Mund. „Wir waren über eine Woche auf See!“
„Deshalb wollen wir so schnell wie möglich nach Einervik. Nun tu endlich, was ich dir sage!“
Wutschnaubend gehorchte Othar. „Hexe!“, zischte er in Yvaines Richtung.
Der Hass in seiner Stimme und in seinen Augen ließ Yvaine zurückweichen. „Ich bin keine Hexe.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher“, murmelte Rorik. Als sie mit schreckensweiten Augen zu ihm aufsah, fügte er ungeduldig hinzu: „Nehmt Euch Othars Worte nicht zu Herzen, Hexen genießen in Norwegen hohes Ansehen. Sie ziehen durchs Land, besuchen die Gehöfte, sagen den Bewohnern die Zukunft voraus und bitten die Götter um reiche Ernten. Nach Einervik kommt jedes Jahr eine Hexe. Meine Stiefmutter hält große Stücke auf sie.“
Ein Frösteln lief Yvaine über den Rücken. Diese heidnischen Sitten waren ihr unheimlich. Was mochte sie wohl in diesem wilden Land im hohen Norden erwarten, fern von der Christianisierung?
Sie bekreuzigte sich hastig. „Unsere Priester sagen, Hexerei ist eine Todsünde. Das Werk Satans. In England wäre so etwas…“
„Wir sind nicht in England“, schnitt Rorik ihr barsch das Wort ab. „Es wird Zeit, dass Ihr Euch damit abfindet. Und legt endlich diese grässlichen Männersachen ab. Darin seht Ihr aus wie ein Gassenjunge.“
Betroffen schaute Yvaine an sich herunter. Sie sah wirklich aus wie ein Gassenjunge, ein schmutziger Gassenjunge noch dazu. Und plötzlich stieg ein unwiderstehlicher Drang in ihr auf, loszulachen. Seit einer Ewigkeit war ihr nicht nach Lachen zu Mute gewesen, dass sie es beinahe vergessen hätte.
„Ja“, sagte sie schmunzelnd und hob den Blick. „Wie gut, dass nur Othar Zeuge war, als Ihr einen Gassenjungen geküsst habt.“
Sein verdutztes Gesicht erfüllte sie mit höchster Genugtuung. Welch wunderbare Gelegenheit für einen strategischen Rückzug. Sie machte kehrt und schritt hocherhobenen Hauptes ins Zelt.
„Es war wundervoll, Anna. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er stand wie vom Donner gerührt. Völlig entgeistert. Ich rate ihm allerdings, das nicht als Zeichen der Ermutigung zu nehmen“, fügte sie erbittert hinzu.
„Darauf würde ich mich allerdings nicht verlassen“, meinte Anna, während sie den kunstvoll geschnitzten Kamm aus Walrossbein durch Yvaines Haar zog. „Dieser Mann lässt sich nicht so schnell entmutigen, andererseits …“
„Was?“
„Ich weiß nicht recht, Lady. Manchmal sehe ich zwei unterschiedliche Männer in ihm – und das hat nichts damit zu tun, dass er nun feine Kleider trägt. Ihr mögt mich für närrisch halten, aber ich kann es nicht erklären.“
„Ich weiß, was du meinst.“ Yvaine beugte sich über die Truhe und nahm ein Gewand mit langen Ärmeln hoch. Fein gesponnenes Leinen, grün gefärbt, in schmale Falten gepresst. Sie legte das Gewand beiseite und strich mit den Fingern nachdenklich über das dünne Unterkleid, das sie bereits trug.
„Manchmal frage ich mich, ob ich mich zu einem Barbaren hingezogen fühle, weil er auch höfliche und ehrenhafte Seiten hat, oder ob ich versuche, mir einzureden, er könne auch höflich und ehrenhaft sein, weil ich mich zu einem Barbaren hingezogen fühle.“
„Hm. Das klingt sehr schwierig. Ich denke, ich halte mich lieber an Thorolf.“
„Aber Anna.“ Yvaine warf ihr einen strafenden Blick über die Schulter zu. „Davon hast du noch nie etwas gesagt … Hast du ihn etwa gern? Hat er dich gern?“
Anna errötete. „Nicht so hastig, Lady. Er beachtet mich doch kaum. Aber er
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