HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
einem dünnen, auf einem Waggon stehenden blonden Ausländer hinauf, der ihm nickend zurief: „Der Lump muss weg! Sag den Leuten, sie sollen ihn fesseln und auf den Zug werfen.“
Cameron gab den Befehl, und gleich darauf erschien ein Arbeiter mit einem Strick. Entgeistert hatte Mary das Geschehen beobachtet, entsann sich nun jäh der dem Gemahl zugerufenen Warnung und des Umstandes, dass sie auf dem Holzstapel von jedem zu sehen war, und versuchte, sich hastig der Sicht zu entziehen. Es war jedoch bereits zu spät. Der Gatte hatte sich in ihre Richtung gewandt. Aus seinem entstellten Gesicht sprach noch immer die Wut, und nun schien er direkt zu ihr herüberzuschauen. Doch noch war sie nicht fähig, ihm entgegenzutreten, nicht an diesem Ort und unter solchen Umständen. Von Panik ergriffen, sprang sie an der anderen Seite des Holzstoßes hinunter, stolperte und begann zu rennen.
4. KAPITEL
Schweißüberströmt blinzelte Cameron in die grelle Sonne und hatte den Eindruck, nicht mehr bei Verstand zu sein. Er hätte schwören können, dass eine Frau ihn beim Namen gerufen und in seiner Muttersprache gewarnt hatte. Doch das konnte unmöglich der Fall sein. Er befand sich in Ostafrika und war schätzungsweise dreihundert Meilen von Mombasa entfernt. Die einzigen Weiber im Camp waren die etwa fünf oder sechs im Gefolge ihrer Landsleute aus Bombay mitgekommenen Huren, die irgendwann reich wie Maharanis heimkehren würden. Keine sprach englisch, das außer Cameron, Anthony Bowman und Harold Cummings niemand im Camp beherrschte.
Plötzlich erblickte Cameron den vom Holzstoß fortlaufenden jungen Inder und fluchte unterdrückt. Da war er wieder, dieser verdammte Bengel, den er nach Mombasa hatte zurückschicken wollen. Vermutlich ahnte der schmutzige kleine Lump, was ihm bevorstand, und versuchte deshalb, sich so lange zu verstecken, bis der Güterzug abgefahren war. „He, Junge! Bleib stehen!“, rief Cameron ihm in Hindustani nach, doch im gleichen Moment verschwand der Bursche zwischen zwei Zelten.
Cameron eilte ihm hinterher, schaute sich hinter den Zelten um und sah ihn zum Rand des Lagers flüchten. Falls der Inder das Camp verließ, würde er in der offenen Savanne innerhalb von Stunden ein Opfer der Hyänen werden. Cameron stürmte ihm noch schneller nach. „Bleib sofort stehen!“, schrie er atemlos, doch der Inder beachtete ihn nicht. Wütend beschleunigte Cameron seine Schritte und merkte, wie der Abstand zu ihm kürzer wurde. Er fluchte erneut und nahm sich vor, dem Wicht gehörig die Meinung zu sagen. Ehe er damit fertig war, würde der Lausebengel sich bestimmt wünschen, nie den Fuß in das Camp gesetzt zu haben.
Jäh stolperte der Jüngling und schrie schmerzvoll auf.
Cameron war direkt hinter ihm, schnellte vor und begrub ihn durch den Schwung des Sprunges im Fallen unter sich. „ Verdammt, halt still!“ Zu aufgebracht, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, in Hindustani zu reden. Der Inder zappelte, strampelte und bäumte sich auf. Irgendwie hatte Cameron jedoch unvermittelt den Eindruck, keinen Jungen festzuhalten, und spürte dann plötzlich eine flach geschnürte Brust unter der Hand. Ganz gewiss war das kein junger Mann. Verblüfft setzte Cameron sich auf. „Zum Teufel, was hat …“ Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken. Während des Gerangels hatte der Turban sich gelöst und war auf die Erde gefallen. Cameron starrte auf lohfarbenes Haar und in veilchenblaue Augen und meinte, Halluzinationen zu haben. Bisher war ihm nur einmal im Leben jemand mit solchen Augen begegnet, und zum letzten Male hatte er sie voller Vorwurf durch einen dünnen Schleier aus elfenbeinfarbener Spitze auf sich gerichtet gesehen. Bestürzt fragte er sich, ob er träume.
„Hallo, Cameron.“
Die leise Stimme klang etwas spröder, als er sie in Erinnerung hatte. Er zwinkerte ungläubig. Es war wirklich die Gattin, die er vor Jahren in Schottland zurückgelassen hatte. Ihm schwirrte der Kopf. Er konnte es nicht fassen, dass sie in Afrika war. Sie gehörte in die andere Welt, derer er sich wie eine schwere Last von den Schultern entledigt hatte, als er an Bord des nach Mombasa auslaufenden Dampfers gegangen war. Natürlich war ihm klar gewesen, dass er sich früher oder später mit ihr auseinandersetzen musste; er hatte indes nie damit gerechnet, sie hier und unter diesen Umständen anzutreffen, und nun die größte Mühe, die Überraschung zu verkraften.
Er stand unvermittelt auf, stemmte in der
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