HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
braune, ihr von der Frau des Händlers ins Gesicht geriebene Creme war von der Hitze verschmiert. Aber das war jetzt nicht mehr von Bedeutung. Mary war sicher im Camp der Eisenbahnarbeiter angekommen.
Soweit sie es beurteilen konnte, hatte niemand sie vom Güterwagen klettern gesehen. Für immer konnte sie sich hier jedoch nicht verborgen halten. Früher oder später würde man herausfinden, wer sie war, und darauf musste sie vorbereitet sein. Sie blickte an der ihre flach geschnürten Brüste verhüllenden Jiba und der Salwar herunter und sagte sich, es sei nicht das Ende der Welt, wenn man entdeckte, dass sie eine Frau war. Die Verkleidung als indischer Kuli hatte dem beabsichtigten Zweck gedient. Das Wichtigste war nun, den Gatten aufzuspüren. Die Frage war, wo er sich unter all den vielen Menschen aufhalten mochte.
Mary zwang sich zum Gehen, bahnte sich durch das Gewühl der Leute, die um den Zug wimmelten, einen Weg und hielt Ausschau nach dem Gemahl. Aber überall blickte sie nur in turbangekrönte braune Gesichter. Sie sah hochgewachsene bärtige Sikhs, die eine stolze Miene zur Schau trugen, raubvogelgesichtige Paschtunen und drahtige Männer aus dem Pandschab. Unter den Indern waren nur wenige, in verschlissene Saris gewandete Frauen mit kholumrandeten Augen und billigen, an den Handgelenken klirrenden Messingarmbändern. Jemanden, der dem Gatten ähnlich war, konnte Mary nirgends entdecken, ebenso wenig eine Person, die den Eindruck erweckte, ihre Muttersprache zu beherrschen. Mehr und mehr überkam sie die Angst, dass sie Cameron nicht antreffen würde.
Plötzlich fiel ihr Blick auf den Rücken eines hochwüchsigen, hageren Mannes, der auf dem Lokomotivtritt stand und sich mit dem Lokführer unterhielt. Unvermittelt bekam sie einen trockenen Mund und fragte sich, ob dieser Mann der Gatte sein konnte, den sie so lange nicht mehr gesehen hatte.
Als er sich umdrehte und vom Tritt sprang, wurde ihr sinkenden Herzens klar, dass er nicht ihr Gemahl war. Er hatte blondes Haar, ein schmales Gesicht, wässrige Augen und eine Hakennase. Die Vermutung lag jedoch nahe, dass er englisch konnte. Mary entschloss sich, mit ihm zu reden und ihn zu bitten, ihr bei der Suche nach dem Gatten behilflich zu sein. Gewiss würde er Mitgefühl für sie aufbringen und sie unterstützen.
Eilends drängte sie sich durch die schwatzende Schar der Kulis und verhielt jäh beim Klang einer ärgerlich erhobenen Stimme den Schritt. Sekundenlang war sie nicht imstande, sich zu regen, und strengte sich an, etwas von dem Gesagten zu verstehen, allerdings vergebens. Aber die Stimme hielt sie in Bann. Der zornige Tonfall und das Timbre riefen Erinnerungen in ihr wach. Vier Jahre hatte sie diese Stimme nicht mehr gehört, doch sie wusste, ohne Cameron MacKenna zu sehen, dass er hinter ihr sprach.
Innerlich zitternd drehte sie sich um. Es waren indes nur indische Kulis zu sehen. In einigem Abstand befanden sich jedoch zahlreiche Zelte, und irgendwo aus einer der Gassen drang Camerons Stimme zu ihr herüber. Den Atem anhaltend, zwängte sie sich durch die Arbeiter und gelangte zum Lager. Sie hastete zwischen den eng stehenden Zelten hindurch, stolperte über einen Strick und sah plötzlich den schimpfenden Mann.
Er hatte sie nicht bemerkt, da er mit dem Rücken zu ihr stand und einen wimmernden, sich wie einen geprügelten Hund duckenden und jammernden Kuli in einer ihr unverständlichen Sprache, vermutlich Hindustani, wütend anschrie. Klopfenden Herzens hielt sie sich an einem Spannseil fest. Der Anblick der schwarzen, über den ausgefransten Kragen fallenden Haare und der breiten Schultern unter dem von der Sonne ausgebleichten Khakihemd ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihren Ehemann vor sich hatte, selbst wenn sein Gesicht bislang nicht zu erkennen gewesen war.
Der um Gnade winselnde Inder begann, furchtsam zurückzuweichen. Der Gatte schnippte mit den Fingern, und sogleich rannte der Kuli zur Baustelle davon. Verärgert vor sich hin fluchend, drehte Cameron sich um, und in diesem Moment sah Mary sein von der Sonne gebräuntes, älter gewordenes Gesicht. Ihr stockte der Atem. Die rechte Hälfte war so, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die linke jedoch ließ sie haltsuchend rückwärts nach der Zeltwand greifen. Eine gezackte Narbe lief von der Schläfe am Auge vorbei bis zur Kinnmitte, und der Mundwinkel war entstellend herabgezogen.
Missgestimmt durch den ärgerlichen Zwischenfall, auf die verdammte Eisenbahn, die Hitze und das
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