HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
war klar, dass sie das Thema jetzt nicht mehr zur Sprache bringen würde, doch er spürte ihre innere Anspannung. Sie würde, koste es, was es wolle, aus mütterlichem Instinkt ihrem Kind folgen und nicht rasten noch ruhen, bis sie es gefunden hatte. „Schlaf, mein Mädchen“, raunte Cameron ihr zu und küsste sie auf das Ohr. „Mach die Augen zu und lausche dem Regen. Ich bin bei dir.“
Über Nacht hatte die Landschaft sich verwandelt. Frisches Gras war der ausgetrockneten Erde entsprossen. In Niederungen, wo Wasser sich ansammeln konnte, quakten Frösche und schwirrten Myriaden winziger Insekten durch die Luft. Schwalben und Ziegenmelker tauchten aus dem Nichts auf und fraßen die Buckelzirpen, die Schlammfliegen und Ringelmücken. Mary fiel von einem Erstaunen ins andere. „Das begreife ich nicht!“, sagte sie verblüfft. „Woher kommt all das Leben? Hier war doch alles tot!“
„Tot? Nein, das Leben hat nur geschlafen, mein Mädchen. Und nun erwacht es. Du wirst sehen.“
Wahrhaftig, Tag für Tag waren neue Wunder zu erleben. Grüne Blätter entfalteten sich an Bäumen, die noch Tage zuvor kahl gewesen waren. Eines Morgens beobachtete Mary einen Gaukler, der mit ausgebreiteten Schwingen am Himmel kreiste, und eine Schar Marabus. Tags darauf sah sie in der Ferne eine Herde Weißschwanzgnus, und am Abend war das Brüllen eines Löwen zu hören. Unaufhörlich rauschte der Regen hernieder. Sobald er zu stark wurde, suchte Mary mit dem Gatten Schutz in der Höhle. In der Zeit des Wartens liebten sie sich zärtlich oder führten lange, ruhige Gespräche, in denen sie von den ohne den anderen verbrachten Jahren berichteten und sich immer wieder ihre Liebe gestanden. Über die Zukunft redeten sie jedoch nicht. Sie stand so lange nicht zur Debatte, bis die Tochter gefunden war.
Natürlich hatte Mary begriffen, wie notwendig es war, erst wieder kräftiger zu werden, ehe der Marsch zum Dscharengpass fortgesetzt wurde. Doch in jeder Stunde, die verstrich, wuchs ihre Sorge und Unruhe. Nur die Liebe des Gatten und seine langmütige Geduld machten ihr das Ausharren erträglich.
Um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen, ging Cameron, sobald er sich auf den Beinen sicher fühlte, auf die Jagd und erlegte mit einem Schuss ein Weißschwanzgnu.
Während er das rohe Fleisch in Streifen teilte, suchte Mary in den Felsspalten nach trockenem Holz. Es war nicht viel, das der Regen nicht durchnässt hatte, doch es genügte, um ein kleines Feuer zu machen, auf das später größere, feuchte Äste gelegt wurden. Es wurde Tag und Nacht in Gang gehalten, und ebenso mussten die auf einen zugeschnitzten Zweig gespießten Fleischstücke ständig in den Astgabeln gedreht werden.
Eines Nachts war das Marys Aufgabe, während der Gatte schlief. Plötzlich regte er sich jedoch hinter ihr, legte ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich. „Ich weiß, woran du denkst, Mary. Aber im Moment können wir nur hoffen, dass es unserer Tochter gut geht.“
„Du hast recht.“ Mary schob die Hand unter seine. „Doch wenn ich an Jennifer denke und mir vorstelle, welche Möglichkeiten wir haben, sie zu retten, dann …“
„Quäle dich nicht, Mary. Du kannst die Chancen nicht abwägen. Und im Moment hilft es dir nicht, darüber nachzugrübeln.“ Cameron hatte in festem Ton gesprochen, fügte indes weicher hinzu: „Leg dich hin und schlaf. Die Glut ist heiß genug, um das fast durchgebratene Fleisch zu Ende zu garen. Du musst dich nicht darum kümmern.“ Entschlossen zog Cameron die Gattin am Arm zu sich herunter.
Sie streckte sich neben ihm aus. Sie brauchte ihn in dieser Nacht. Vor ihr lagen viele Tage der furchtbaren Unsicherheit, und sie ängstigte sich.
Er schmiegte sie an sich, küsste sie auf das Haar und flüsterte: „Es wird nicht leicht sein, was immer uns auf dem Marsch zum Dscharengpass bevorsteht. Aber wir werden es schaffen, Liebling. Wir müssen durchhalten. Das sind wir uns schuldig.“
In dem Bewusstsein, dass der Gatte sich Mühe gab, Verständnis für sie zu aufzubringen, kuschelte sie das Gesicht an seine Brust. Aber er konnte nicht wirklich begreifen, wie ihr zumute war. Er hatte die Tochter ja nie erblickt, lachen oder im Sonnenschein durch die Heide tollen gesehen und sich nie über ihr Bett gebeugt, wenn sie schlief. Gewiss, sie war auch sein Kind, und da er ein gutes und freundliches Wesen hatte, mochte er sie. Es verwunderte Mary, dass sie ihn früher für rau und hart gehalten hatte. In Wahrheit war er der
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