HISTORICAL EXCLUSIV Band 14
zum Rand des tiefen, vom abfließenden Regenwasser gefüllten Grabens.
Suleiman schrie auf, als er den Halt verlor und mitgerissen wurde.
Mary war es gelungen, sich freizukämpfen. Sie sah, dass einer der Sklaventreiber, von einem Felsbrocken getroffen, mit einem klaffenden Loch im Schädel zusammenbrach. Sofort rannte sie zu ihm und hob das neben ihm in den Morast gefallene Gewehr auf. Sie öffnete den Verschluss und stellte fest, dass es geladen und schussbereit war. Dann blickte sie zu Hassan hinüber, der halb benommen unter dem eingestürzten Zelt hervorkroch, Murchisons Zeichnung in den gekrümmten Fingern. Wütend und mit bebenden Fingern hob sie die Waffe an die Schulter, legte auf ihn an und entsicherte das Gewehr mit dem Daumen. Keuchend krümmte sie den Zeigefinger um den Abzug und rief verächtlich: „Hassan!“
Er zuckte zusammen und riss überrascht die Augen auf, als er sie bemerkte.
„Sieh mich an, du Scheusal!“, schrie sie ihn an. „Ich will dein Gesicht sehen, wenn ich dich töte!“
Er richtete sich auf, starrte sie, mit dem Rücken zum Abwassergraben stehend, an und grinste. „Du willst mich töten, Memsahib? Mutig gesprochen! Aber ich denke nicht, dass du mich umbringen wirst.“
Ihr um den Abzug gekrümmter Finger zitterte. „Und warum sollte ich dich nicht erschießen? Du hast mich getäuscht und mir die Tochter geraubt.“
„Begreifst du denn nicht, Sahiba? Ich war der Arm deines Schicksals.“
„Was?“ Die Spitze des Gewehrlaufes verschwamm ihr vor den Augen, und sogleich richtete sie Kimme und Korn wieder auf Hassans Herz aus.
„Ja, denk doch nach. Deine Tochter wäre tot, hätte ich sie nicht gerettet. Und du hättest dich von deinem Mann scheiden lassen und wärest nach England zurückgereist. Verstehst du denn nicht? Alles, was du jetzt hast, verdankst du mir. Und deswegen, Sahiba, wirst du nicht fähig sein, mich zu töten.“
Sie schwankte, benommen von Hassans seltsamer Logik. Es war unfassbar, aber sie erkannte, dass er recht hatte. Und dabei wusste er nicht einmal um ihr Geheimnis und hatte keine Ahnung, dass sie den Keim neuen Lebens in sich trug, eines Wesens, das nicht gezeugt worden wäre, hätte sie sich tatsächlich vom Gatten getrennt.
„Mary!“
Sie hörte Camerons Stimme irgendwo hinter sich und sah Hassan sich rückwärts von ihr fortbewegen, auf den Rand des Wassergrabens zu. „Hast du jetzt begriffen?“ Seine Stimme klang süß, besänftigend, einlullend. „Ich wusste doch, dass du nicht …“ Entsetzen malte sich in seiner Miene, als das durchweichte Ufer plötzlich unter ihm nachgab. Sekundenlang schienen seine Füße ins Nichts zu treten. Dann fiel er in den tosenden, wirbelnden Bach. Einen Augenblick lang griff er mit den Hand nach der Böschung. Er hätte sich vielleicht noch retten können, hielt jedoch mit der anderen Hand die Karte fest. Das Letzte, was Mary von ihm sah, war die Faust mit dem zerdrückten Stück Papier.
„Mary!“
Wieder vernahm sie die Stimme des Gatten, und dann fühlte sie, wie er sie in die Arme nahm. Langsam hörte die Welt auf, sich vor ihren Augen zu drehen, und dann merkte sie, dass kein Geröll mehr die Halde herunterpolterte. Die Sklaven hatten die Schlüssel zu den Schlössern ihrer Fesseln gefunden und befreiten sich von den eisernen Ringen und Ketten. Mary drehte sich zu ihrem Mann um, schlang ihm die Arme um die Taille und schmiegte sich an ihn, von einem jähen Gefühl des Friedens überkommen. Wider Willen schweiften die Gedanken an einen mondhellen Abend und das Gespräch mit Halil ibn Aybak al Gahiz zurück, und sie erinnerte sich, dass er gesagt hatte, die unerwarteten Entwicklungen im Leben seien doch viel interessanter als alles, was man vorausplanen könne, und nur durch unvorhergesehene Ereignisse würde der Mensch stark und weise und lerne die wahre Bedeutung des Wortes Glück.
Sie zwinkerte gegen die aufsteigenden Tränen an. An jenem Abend war sie sehr töricht gewesen zu glauben, sie könne ihr Schicksal in die Hände nehmen und es nach Gutdünken formen. Sie hatte wirklich nicht wissen können, was ihr bestimmt gewesen war, und nicht zu erahnen vermocht, dass ihre Reise hier am Dscharengpass enden würde und alles so war, wie es sein sollte. Zufrieden erschauernd, begriff sie, dass die Reise jedoch noch nicht beendet war. Im Gegenteil, auf eine andere Weise fing sie jetzt erst an.
Cameron hob sacht den Kopf der Gemahlin an und schaute ihr voller Liebe in die Augen. „Komm, mein
Weitere Kostenlose Bücher