HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
breite Krempe des Huts verbarg den oberen Teil seines Gesichts, und man konnte nur einen Schnurrbart und breite Koteletten erkennen.
Obwohl Lilly seine Augen nicht recht zu sehen vermochte, vermutete sie, dass sie dunkel waren und eine gewisse Gerissenheit widerspiegelten. Sie beobachtete, wie er den Bewegungen von Belles Mörder genau folgte, während dieser die Straße auf und ab lief und dabei immer wieder am Eingang zur Gasse vorbeikam. Der ruhige Blick ihres Retters hatte etwas so Tröstliches an sich, dass sie für einen Moment tatsächlich aufatmete.
„Da haben Sie sich aber einen aufbrausenden Liebhaber angelacht“, sagte der Ire.
„Einen Liebhaber!“, empörte sich Lilly.
„Still! Der Kerl hört Sie sonst.“
„Er ist nicht mein Liebhaber“, flüsterte sie hitzig. „Er ist ein Mörder.“
Der Mann zog an der Zigarette. „Das glaube ich gern.“ Es klang allerdings nicht besonders überzeugt.
„Ich habe gesehen, wie er eine Frau umgebracht hat“, erklärte sie.
„Wirklich? Dann sind Sie besser still, oder es wird Ihnen nicht anders ergehen, meine Gute. Er kommt nämlich gerade zurück.“
Lilly erstarrte. Die Geräusche der Straße hallten in ihren Ohren wider. Sie zitterte. Ohne das Sonnenlicht war die Januarluft kalt und unangenehm. Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern, wie sie da so auf ihren Taschen lag und die Kamera fest umklammert hielt. Eine Ecke des Apparats drückte ihr in die Rippen. Sie schloss die Augen und betete im Stillen.
Deegan zog ein letztes Mal an der Zigarette und warf dann die noch brennende Kippe auf die Straße. Der finstere Bursche, der das Mädchen in seine Arme getrieben hatte, sah anscheinend ein, dass es zwecklos war, weiterzusuchen. Er betrat einen Saloon auf der anderen Straßenseite. Dort wollte er vermutlich sein Pech mit einer Flasche Rum und in den Armen einer anderen Frau vergessen. Auch wenn der Mann einen so verschlagenen Gesichtsausdruck hatte, dass man ihm etwas so Böses wie einen Mord zutraute, bezweifelte Deegan, dass er wirklich ein Mörder war. Er musste dem Mädchen allerdings einen großen Schrecken eingejagt haben.
Die junge Frau ließ keinen Laut von sich hören. Schon seit zehn Minuten kauerte sie mucksmäuschenstill in der Ecke. Ihr Herz klopfte wahrscheinlich mindestens genauso heftig wie das seine. Doch während sie vor Angst verging, war er vor Aufregung ganz erhitzt. Genau dieses Gefühl drohender Gefahr hatte er schließlich in Barbary Coast gesucht. Obgleich die Euphorie allmählich nachließ, fiel es ihm schwer, ein zufriedenes Lächeln zu unterdrücken.
Beinahe wie der heilige Georg hatte er eine Frau vor einem bösen Ungeheuer gerettet, wobei er jedoch nichts anderes als seinen Verstand eingesetzt hatte. Es machte ihm gar nicht so viel aus, dass dieses Abenteuer sehr kurz und harmlos gewesen war. Wenn der Mann seine entlaufene Freundin später noch einmal zu finden versuchte, würde er das zweifelsohne auch schaffen. Für den Moment jedoch war sie frei, und ihm wurde auf einmal klar, dass er bisher noch kaum einen Blick auf sie geworfen hatte.
Er ging leise zu ihr. Sie schien sich tatsächlich noch kaum bewegt zu haben, was ihn erstaunte. Schließlich hatte sie viel Temperament gezeigt, als sie ihn vorher zurechtgewiesen hatte. Sie war beleidigt gewesen, nachdem er ihren Verfolger als ihren Liebhaber bezeichnet hatte. Nun kam ihm die Idee, dass der Kerl ein Verwandter von ihr sein könnte, der sie zähmen sollte. Es wäre wirklich schade, wenn ihm das gelänge, dachte Deegan lächelnd.
Doch im Grunde ging es ihn nichts an. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, das Unvermeidbare für einen Augenblick hinauszuzögern. Den Frauen in Barbary Coast wurde der Wille früher oder später sowieso gebrochen. Er hatte es bei Hannah und den anderen beobachtet, als er hier aufgewachsen war. Wenn es nicht durch die Gewalttätigkeit ihrer Männer geschah, passierte es wegen ihrer Liebe für dieselben Scheusale.
Deegan zog ein paar Holzkisten beiseite und hockte sich neben die Frau. Sie schien erstarrt zu sein und hielt die große Kamera verzweifelt an ihre Brust gepresst, während sie die Augen fest geschlossen hatte. Der Saum ihres braunen Rocks war nach oben geschlagen, sodass er zwei feste Schnürstiefel und eine hübsch geformte Wade, die in einem dunklen Strumpf steckte, sehen konnte.
„Er ist weg“, sagte er leise.
Sie öffnete die Augen und sah ihn verängstigt an. „Wirklich?“, flüsterte sie.
„Wirklich“,
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