HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
anderen Gasse und verspürte eine solche Furcht wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Nur der Mann mit der melodischen Stimme stand zwischen ihr und dem Tod.
Er lehnte sich gelassen an die schmutzige Ziegelwand ihr schräg gegenüber und achtete nicht mehr auf sie. Stattdessen zog er einen Beutel Tabak und Zigarettenpapier aus der Innentasche seiner Jacke und begann sich eine Zigarette zu drehen.
Im nächsten Moment stürzte bereits Belles Mörder um die Ecke. Er starrte die Gasse entlang. Wenn er auch nur ein Stückchen von Lillys Rock oder das Ende ihres Stativs sah, wäre es um sie geschehen. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sicherzugehen, dass sie völlig verborgen war. Voll Entsetzen beobachtete sie ihren Verfolger durch die Ritzen zwischen den aufgestapelten Kisten. Sie hatte ihn sogleich wiedererkannt. Der Schock hatte ihr jedes Detail seiner Gesichtszüge ins Gedächtnis gebrannt, und sie würde ihn bestimmt nie mehr vergessen. Seine Miene wirkte bedrohlich.
Ihr Retter schenkte dem Mann jedoch kaum einen Blick. Er schien ganz auf seine Zigarette konzentriert zu sein.
„He!“, rief der Mörder ihm zu. „Haben Sie eine Frau gesehen, die hier entlanggerannt ist?“
„Eine Frau?“, erkundigte sich Lillys Wohltäter, wobei seine Stimme plötzlich einen deutlichen irischen Akzent aufwies. „Ist sie hübsch?“
Der Mörder warf ihm einen finsteren Blick zu. „Verdammt“, fluchte er und suchte mit den Augen die Straße und dann von Neuem die Gasse ab.
Lilly widerstand der Versuchung, sich noch tiefer in den Schatten der Mauern zurückzuziehen. Sie befürchtete, dass eine Bewegung seine Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte. Seine Augen funkelten vor Wut. Fast hätte man glauben können, dass er ein Gehilfe des Teufels wäre, der gekommen war, um ihre Seele zu holen.
„Sie hat ein dunkles Kleid an“, sagte er. „Und sie trägt vermutlich irgendetwas Schweres mit sich. Wenn sie nicht gerannt ist, hat sie zumindest heftig geatmet.“
„Ah“, seufzte der Ire zufrieden. „So mag ich die Frauen – heftig atmend.“ Er blickte wieder auf seine Zigarette. „Aber rennend? Vielleicht haben Sie das Mädchen nicht gut behandelt, wenn sie Ihnen weggelaufen ist.“
„Haben Sie die Frau jetzt gesehen oder nicht?“, fuhr der schlaksige Mann ihn ungeduldig an.
Lillys Retter schien die Ungeduld des anderen nicht weiter zu berühren. „Nein, leider nicht“, erwiderte er gelassen.
Der Mörder stieß wieder einen Fluch aus. Lilly fing zu zittern an. Als der Mann einen Moment später jedoch davonging, seufzte sie erleichtert auf.
„Vorsicht“, warnte sie der Ire, als sie sich bewegte. Er entfachte ein Streichholz an der Hausmauer und senkte dann den Kopf, um sich die Zigarette anzuzünden. „Er ist noch immer dabei, Sie zu suchen“, sagte er mit leiser Stimme, wobei nun der auffallende Akzent fehlte. „Ich werde es Ihnen sagen, wenn die Luft rein ist. Im Augenblick können Sie es sich jedenfalls bequem machen.“
„Danke“, flüsterte Lilly.
„De nada“, erwiderte er.
Die weich klingenden spanischen Worte hatten etwas Beruhigendes. Sie entspannte sich ein wenig und betrachtete den Mann, der nun perfekte Rauchringe in die Luft blies. Seine ganze Haltung vermittelte den Eindruck, als ob er sich niemals Sorgen machte. Lilly beneidete ihn fast darum.
Wie es sich für einen hilfreichen Ritter gehörte, sah er sehr gut aus. Sein markantes Gesicht strahlte trotz der scharfen Linien eine angenehme Sanftheit aus. Er wirkte wie jemand, der oft und gern lächelt. Sein Haar war hellbraun und gut geschnitten. Er musste also erst vor Kurzem in diesem Teil der Stadt aufgetaucht sein. Während der Wochen, die Lilly mit Besuchen in Barbary Coast verbracht hatte, war ihr immer wieder aufgefallen, wie liederlich die Männer aussahen, die sich hier herumtrieben. Obgleich sie vermutete, dass es auch Angehörige der Oberschicht hierher zog, sah man während der Nachmittagsstunden so jemanden eigentlich nie – von Reverend Isham einmal abgesehen, der auf den Straßen des Viertels seine Predigten hielt.
Dieser Mann hier war anders. Seine Kleidung war nicht nur gut geflickt, sondern wirkte auch zu sauber, um bereits lange in seinem Besitz sein zu können. Wahrscheinlich hatte er sie in einem der vielen Läden gekauft, die gebrauchte Kleidung anboten.
Seine abgelaufenen Stiefel und der zerknautschte Filzhut erweckten allerdings den Anschein, als ob sie bereits eine ganze Zeit lang von ihm getragen worden wären. Die
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