HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
zugeknöpften Mantel. „Ich komme wohl in einem unpassenden Moment“, sagte er, nahm seinen Zylinder ab und lächelte sie an. „Ich werde Sie bestimmt nicht lange aufhalten. Sind Sie Miss Renfrew?“
„Ja, die bin ich“, antwortete Lilly verwirrt. Sie hatte bereits Deegans Lächeln für unwiderstehlich gehalten, doch das schalkhafte Lächeln dieses Mannes hätte das Herz jedes Mädchens höher schlagen lassen. Da sie bis zum Vortag noch niemals die uneingeschränkte Aufmerksamkeit eines Mannes erhalten hatte, war es nicht weiter verwunderlich, dass es sie geradezu aus der Fassung brachte, nun noch einen Mann kennenzulernen, der sich ihr gegenüber so charmant gab. Und doch war das Lächeln des Fremden zu selbstbewusst, um sie ganz zu verzaubern. Sie zog den Anflug von Verletzlichkeit, der sich in Deegan Galloways Gesicht zeigte, vor.
„Ich dachte mir, dass Sie Miss Renfrew sein müssen“, fuhr der Fremde fort. „Man hat Sie mir als eine entschlossene junge Frau geschildert.“
Wie schön es doch wäre, eines Tages als hübsch oder hinreißend bezeichnet zu werden!, dachte Lilly. Entschlossen war eine Beschreibung, die Vinia vielleicht als ein Kompliment für ihre Schwester verstanden hätte, jedoch niemals für sich selbst.
Meine Güte! Das konnte doch nicht bereits Mr. Abernathy, der Witwer mit den sechs Kindern, sein. Er war jung, gutaussehend, und er war geschmackvoll, wenn auch betont auffallend modisch gekleidet. Seine Stiefel glänzten, er trug eine Krawattennadel mit einem Diamanten, und seine Handschuhe waren makellos. Obwohl sein Anzug schwarz war und nur durch die feinen Silberfäden in der Weste und das weiße Hemd aufgehellt wurde, wirkte er keineswegs wie ein trauernder Witwer. Das Blitzen in seinen grünen Augen war nicht zu übersehen.
„Ich heiße Abbot“, sagte er.
Lilly verstand immer weniger.
„Pierce Abbot“, ergänzte er.
Doch auch das war nicht hilfreich. „Es tut mir leid“, sagte sie. „Sollte ich wissen, wer Sie sind?“
Der Dandy lächelte wehmütig. „Vermutlich nicht, auch wenn ich einmal meinen Namen für bedeutsam gehalten habe.“ Er trat von einem Bein auf das andere, als ob er nicht daran gewöhnt wäre, vor der Tür stehen gelassen zu werden.
Oh nein! Sie hatte ihn beleidigt. Lilly dachte angestrengt nach, wer er wohl sein könnte, doch ihr fiel nichts ein. „Sind Sie vielleicht ein Freund meines Bruders, Mr. Abbot?“
„Nur wenn er Galloway heißt, Miss Renfrew“, erwiderte ihr Besucher.
Ein Freund ihres Ritters! Es kam ihr seltsam vor, dass dieser wohlhabende Mann und Deegan Freunde sein sollten. Wenn sie jedoch an die eleganten Bewegungen dachte, die sich so deutlich von dem ungepflegten Äußeren abgehoben hatten, erschien es ihr nicht mehr so abwegig.
Ihr Misstrauen musste sich in ihrem Gesicht gezeigt haben, denn der Fremde räusperte sich bedeutungsvoll. „Ich bin gekommen, um Ihnen ein Geschenk zu überreichen. Vielleicht macht mich das glaubwürdiger“, sagte er.
Ein Geschenk? Er meinte wohl ihre Kamera und die Taschen mit dem Zubehör! Lilly schaute an ihm vorbei zu seiner wartenden Kutsche. „Ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass Sie meine Sachen zurückgebracht haben“, sagte sie. „Befinden sie sich in der Kutsche?“ Das Gefährt sah demjenigen sehr ähnlich, mit dem Deegan am Tag zuvor plötzlich aufgetaucht war.
Abbot blickte sie verwundert an. „Sachen?“, wiederholte er. „Es tut mir sehr leid, Miss Renfrew, wenn ich Sie enttäuschen muss. Aber es befindet sich nur ein kleiner Umschlag in meiner Westentasche. Es ist nichts anderes als eine läppische Einladung. Sie haben anscheinend mehr erwartet.“
Lilly war von Neuem peinlich berührt. „Oh nein! Ich dachte nur, dass Sie mir meine Kamera und die dazugehörige Ausrüstung zurückbringen.“
„Ach so. Ich vermute, diese reizvolle Aufgabe möchte Galloway selbst übernehmen.“
„Oh!“ Lilly errötete.
„Er wird bestimmt später bei Ihnen vorbeikommen“, versicherte ihr der Dandy. „Würden Sie in der Zwischenzeit wohl so liebenswürdig sein und mein bescheidenes Geschenk entgegennehmen?“
Lilly blickte ihn verständnislos an, bis sie begriff, was er meinte. „Ach, Ihre Einladung. Natürlich!“
Er überreichte ihr mit einer Verbeugung einen cremefarbenen Briefumschlag. „Es ist nur eine kleine Einladung ins Haus meiner Mutter. Ich muss allerdings gestehen, dass ich – nachdem ich Sie nun kennengelernt habe – in tiefe Schwermut versinken würde, wenn Sie
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