HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
ablehnen sollten.“
Einen Moment lang verstand sie wieder nichts. Erst allmählich dämmerte ihr, dass es sich bei seinem Besuch um kein Fantasiegespinst handelte, sondern dass dieser Dandy tatsächlich mit ihr flirtete. Wie unvorstellbar!
Hastig nahm sie den Umschlag entgegen und öffnete ihn. Die Karte, die sich darin befand, war mit einer eleganten, flüssigen Handschrift beschrieben.
Lilly las rasch, was darauf stand. Sie wurde darum gebeten, Mrs. Abbot gemeinsam mit einigen ihrer Freunde die Ehre zu erweisen, sie in drei Tagen in ihrem Haus in Nob Hill für einen musikalischen Abend zu besuchen. Eine bekannte Sopranistin sollte gemeinsam mit anderen ebenfalls bekannten Musikern einige ausgewählte Stücke zum Besten geben.
„Es muss sich um einen Irrtum handeln“, sagte sie.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Abbot.
Lilly sah ihn an. „Aber das ist von Mrs. Abbot.“
„Ja.“
„Von den Nob Hill Abbots.“
Pierce verbeugte sich. „Das sind wir. Die Nob Hill Abbots.“
Es musste einfach ein Irrtum sein. Selbst Vinia, die so stolz auf ihre gesellschaftlichen Beziehungen war, hatte es noch nie geschafft, in eine der Villen auf dem Nob Hill eingeladen zu werden. Es waren gewaltige Bauten. Lilly hatte sie schon des Öfteren von der Stadtbahn aus betrachtet. Wenn der Wagen den Hügel in Richtung Market Street hinunterfuhr, hatte sie die Besitztümer der Crockers, der Huntingtons und der Floods bewundert. Das Haus der Abbots war nur geringfügig kleiner und befand sich in Taylor and Pine, nahe der Villa des Bankiers Antoine Borel. Wichtige Persönlichkeiten wie die Abbots luden doch niemand so Unbedeutenden wie Lilly Renfrew ein!
Sie steckte die Karte in den Umschlag zurück. „Danken Sie bitte Ihrer Mutter von mir“, sagte sie und reichte die Einladung dem jungen Dandy wieder. „Leider wird es mir nicht möglich sein, zu kommen.“
Pierce Abbot weigerte sich, den Brief entgegenzunehmen. „Wir lassen ein Nein niemals gelten, Miss Renfrew. Glauben Sie mir – auch wenn Sie uns noch nicht kennen, werden Sie sich unter Freunden befinden.“
„Es ist trotzdem nicht möglich“, beharrte Lilly.
Das war es tatsächlich nicht. Sie konnte nicht einfach ihre Eltern abends allein lassen, um sich unter lauter fremden Menschen zu vergnügen. Außerdem war sie sich trotz Mr. Abbots Beteuerung sicher, dass sie Höllenqualen durchzustehen hätte, wenn sie die Einladung annahm.
Hinzu kam auch noch der traurige Zustand ihrer Garderobe. Sie hatte gar kein passendes Kleid, das sie zu einer so wichtigen gesellschaftlichen Veranstaltung tragen könnte.
„Entscheiden Sie sich noch nicht endgültig“, sagte Abbot. „Wenn es Ihrer Familie lieber wäre, dass Sie von einer Freundin oder einem Bekannten begleitet werden, können Sie jederzeit gern jemanden mitbringen.“
Er zeigte sich wahrhaft großzügig, doch Lilly bezweifelte, dass er ihr bei ihrer dürftigen Kleiderauswahl helfen konnte.
„Ich danke Ihnen, Mr. Abbot.“
Er lächelte sie an, und diesmal wirkte sein Strahlen echt und unverstellt. „Danken Sie Galloway“, sagte er. „Ich werde es auf jeden Fall tun.“
Deegan lehnte sich an die Wand neben Hannahs Fenster. Eine fast vergessene Zigarette hing ihm zwischen den Lippen, und der Rauch stieg in seine besorgt blickenden Augen. Er war eigentlich nur hierhergekommen, um Lillys Kamera und die Taschen zu holen, doch nun fiel es ihm schwer, wieder zu gehen.
Hannah saß in ihrem Sessel und nähte schweigend. Flickarbeiten hatte sie bereits erledigt, als sie beide noch hier gewohnt hatten. Sie hatte ihm stets mühselig seine Kleidungsstücke geflickt oder den Saum aus den Hosen gelassen, aus denen er herausgewachsen war. Das Hemd, das sie nun in Händen hielt, war für einen Jungen – vielleicht für den schmutzigen Otis oder einen anderen der Knaben der Nachbarschaft.
Da das Wetter mild war, hatte Hannah das Fenster ein wenig geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. „Es macht keinen Sinn“, sagte Deegan plötzlich.
Sie schaute auf. „Ich habe im Lauf des Lebens gelernt, dass viele Dinge keinen Sinn ergeben“, erwiderte sie. „Ich dachte, das wüsstest du auch.“
Er sah sie an. „Du meinst also, ich soll mich in nichts einmischen, was mich nichts angeht.“
Hannah lächelte leicht. „Nein, mein Lieber, das meine ich nicht. Deine Einmischung macht sogar sehr viel Sinn.“
„Ach, ja“, sagte er. „Digger O’Rourke als Ihr Freund und Retter. Hast du mich nicht immer gewarnt, wenn
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