HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
Träumen hatte sie immer wieder Belles Mörder gesehen. Er hatte sie allerdings nicht durch die Straßen gejagt, sondern sich für eine Aufnahme zurechtgesetzt.
War dieser Traum nur eine Ausgeburt ihrer Fantasie? Oder hatte sie den Mann tatsächlich schon früher einmal gesehen?
Während ihrer Besuche in Barbary Coast hatte sie viele hundert Fotografien gemacht. Zeigte sich vielleicht auch sein Gesicht auf einer davon? Sie musste die Schachteln mit den Kontaktbögen und die ungerahmten Abzüge durchsehen. Doch als Erstes musste sie sich um den Haushalt kümmern. Am besten suchte sie während ihrer Einkäufe beim Metzger und beim Gemüsehändler auch ihren Bruder auf. Sie wollte ihn dazu überreden, einen Artikel zu verfassen, in dem den nachlässigen Behörden einmal tüchtig die Leviten gelesen würden.
Wahrscheinlich würde sie damit allerdings seinen Zorn über ihre regelmäßigen Besuche in Barbary Coast auf sich ziehen. Für einen fortschrittlich denkenden Mann zeigte sich Edmund oft merkwürdig altmodisch – jedenfalls was die Rolle der Frau betraf. Vor allem wenn diese Frau seiner Familie angehörte. Er selbst durfte natürlich ohne Weiteres Fakten für seine Reportagen sammeln, die er unter dem Decknamen Minos im „San Francisco Stand“ veröffentlichte. Doch dass eine Frau seinem Vorbild folgte, sagte ihm ganz und gar nicht zu. Wie absurd ihm doch der Gedanke vorkommen musste, dass auch ein weibliches Wesen einen Verstand unter ihrer Haube haben konnte! Zugegebenermaßen war es bei Frauen wie Vinia auch nicht allzu offensichtlich. Aber Edmund konnte Lilly doch nicht ernsthaft mit ihrer Schwester in einen Topf werfen!
Sie würde ihm stets dankbar dafür sein, dass er sich um ihre Ausbildung zur Fotografin gekümmert hatte, selbst wenn er auch erst nach einer ganzen Reihe anderer Vorschläge ihrerseits dazu bereit gewesen war. Er hatte ihr die erste Kamera geschenkt und sie stets mit dem nötigen Zubehör versorgt. Und er war es auch gewesen, der ihre ersten Aufnahmen betrachtet und lächelnd verkündet hatte, dass es sich um ein wirklich harmloses Hobby handele.
Lilly war sehr stolz auf diese ersten Fotos gewesen. Sie hatte ihre Kamera und die ganze Ausrüstung in die Häuser von Freunden und Nachbarn geschleppt und dort Familienbilder aufgenommen. Auch auf öffentlichen Veranstaltungen war sie gewesen, um das jeweilige Ereignis für die Nachwelt festzuhalten. Als Edmund ihre Bemühungen als bloße Spielereien abgetan hatte, war sie tief verletzt gewesen.
Sie setzte den Wasserkessel auf den Herd und begann, das Frühstück herzurichten. Als sie sah, wie ihre Nachbarin eine Lampe im Salon entzündete, ging sie hinüber und bat die Frau, sie für drei Stunden im Haus ihrer Eltern zu vertreten. Mehr brauchte sie nicht. Sie wollte rechtzeitig zurück sein, um das Mittagessen zubereiten zu können.
Nachdem sich die Nachbarin zu ihren Eltern in den Salon begeben hatte, eilte Lilly in ihr Zimmer, um sich ihren schönsten Hut aufzusetzen. Sie befand sich gerade in der Eingangshalle und knöpfte sich den Mantel zu, als eine Kutsche vor dem Haus anhielt.
Ihre Eltern riefen sie beide sogleich aufgeregt in den Salon. Schließlich kam es nicht häufig vor, dass gleich zwei Mal hintereinander eine Equipage vorfuhr.
„Ist das der junge Mann von gestern?“, fragte Mrs. Garvey, die Nachbarin, neugierig. Sie hatte also tatsächlich auch aus dem Fenster geguckt, als Lilly zurückgebracht worden war.
„Das glaube ich nicht“, meinte ihre Mutter, während sie mit ihrem Rollstuhl zum Fenster fuhr und vorsichtig durch die Spitzenvorhänge blickte. „Er war hellhaarig, und dieser Mann hat dunkle Haare. Was will er wohl von uns?“
Lilly, die sich ebenfalls hinter der Gardine verborgen hielt und zu ihm hinausspähte, fragte sich dasselbe. Der Fremde war groß, recht anschaulich und seinem Gebaren nach ein selbstbewusster und wohlhabender Mann.
„Vielleicht sucht er in Wirklichkeit die Tochter der Bertrams und hat sich nur im Haus geirrt“, vermutete ihr Vater.
„Unsinn“, widersprach seine Frau. „Mrs. Bertram würde es nicht gestatten, dass ihre Tochter schon so früh am Tag Herrenbesuch empfängt.“
Mrs. Garvey stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. „Ich glaube, er kommt zu Ihnen, Mrs. Renfrew. Er geht gerade die Stufen herauf.“
Einen Augenblick später klingelte es an der Haustür.
Als Lilly öffnete, schaute der elegante Herr erst auf ihren Hut und dann auf den
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