HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
charmante Benehmen des jungen Mr. Abbot.
Mrs. Garvey, die bisher noch kein Wort gesagt hatte, setzte sich aufgeregt an den Rand ihres Stuhls und wartete darauf, dass Miss Renfrew die drei aufklären würde.
Lilly sah auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. So gern sie die Unterhaltung mit Mr. Abbot genau wiedergegeben hätte, so blieb ihr doch nicht genug Zeit dafür. Wenn sie nicht bald fortkäme, würde sie nicht rechtzeitig wieder zu Hause sein, um das Mittagessen kochen zu können. Auch hätte sie dann nicht genug Zeit, um später ihre Fotografien durchzusehen, unter denen sich vielleicht das Bild des Mörders befand. Wie unangenehm ein schlechtes Gewissen doch war! Was war nun wichtiger: die letzten Jahre ihrer Eltern so angenehm wie möglich zu machen oder Belle Tauber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Sie kam zu keiner Entscheidung.
Sofort konnte sie jedenfalls nicht von hier weggehen, dafür waren ihre Eltern und die Nachbarin viel zu neugierig. Sie reichte ihrer Mutter die Einladungskarte. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll“, gestand sie. „Der Gentleman stellte sich als Pierce Abbot vor und sagte, er sei ein Freund des Mannes, der mich gestern Abend nach Hause begleitet hat.“
„Abbot!“, rief Mrs. Garvey aufgeregt.
Alle sahen Lilly überrascht an.
„Ja“, erklärte sie ruhig. „Es war Pierce Abbot. Haben Sie von ihm gehört, Mrs. Garvey?“
„Gütiger Himmel“, rief ihre Mutter aus, noch ehe die Nachbarin weitersprechen konnte. „Vater! Unsere Lilly ist zu einem der musikalischen Abende von Mrs. Abbot eingeladen worden.“
Mr. Renfrew runzelte die Stirn und suchte in seiner Tasche nach einer Zigarre. „Abbot? Doch nicht diese angeberische Familie von Nob Hill?“
„Genau die“, erwiderte seine Frau, ohne zu merken, dass sie ihn damit in seinem abfälligen Urteil bestätigte. „Du hast natürlich angenommen, Lilly?“
„Mutter!“, tadelte Mr. Renfrew sie.
Mrs. Renfrew achtete nicht auf ihn. „Welch eine Ehre, Lilly“, sagte sie. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du mit Mrs. Abbot bekannt bist.“
Lilly hatte bisher immer angenommen, dass Vinias Ehrgeiz, in der Gesellschaft aufzusteigen, ihr allein zuzuschreiben sei. Doch das Leuchten in den meist müde wirkenden Augen ihrer Mutter zeigte ihr deutlich, woher ihre Schwester dieses Streben hatte. Lilly hatte ihre Eltern seit Monaten nicht so lebhaft gesehen. Wieder warf sie einen Blick auf die Kaminuhr und sah zu, wie eine Minute nach der anderen verstrich.
Sie faltete die Hände im Schoß. „Ich kenne Mrs. Abbot auch gar nicht“, erklärte sie. „Und ich habe die Einladung bereits dankend abgelehnt.“
„Es ist natürlich sehr kurzfristig“, stimmte ihre Mutter zu. „Aber eine solche Ehre und eine derartige Gelegenheit sollte man nicht ablehnen. Wird es seltsam wirken, wenn Lilly den Abbots doch noch eine Zusage schickt, Mrs. Garvey?“
Lilly blinzelte, weil sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. „Du willst, dass ich gehe? Das kannst du doch nicht ernst meinen!“
Mrs. Renfrew drückte die wertvolle Einladungskarte an ihre Brust. „Es ist die Antwort auf meine Gebete, Liebling“, sagte sie begeistert. „Und welch eine Antwort! Sie kommt mir geradezu märchenhaft vor.“
Ihr Mann war zwar nicht ganz so begeistert, doch auch er stimmte mit seiner Frau überein. „Aschenbrödel geht zum Ball und wird die Schönste des ganzen Festes!“
Niemand könnte weiter von der wunderbaren Verwandlung Aschenbrödels entfernt sein als ich, dachte Lilly. Doch auch sie hatte sich bereits zu derartigen Träumereien hinreißen lassen, seitdem Deegan Galloway in ihrem Leben aufgetaucht war.
„Oh ja!“, rief Mrs. Garvey entzückt aus. „Mr. Pierce Abbot scheint mir ein sehr passender Märchenprinz zu sein. Er ist nicht nur ein höchst attraktiver Gentleman, sondern auch sehr wohlhabend und leitet die Familiengeschäfte ganz ausgezeichnet, wie man immer wieder hört.“
„Wirklich?“, fragte Mr. Renfrew, der nicht überzeugt war.
„Woher wissen Sie das, Mrs. Garvey?“, erkundigte sich Lillys Mutter. Ihre sonstige Mattigkeit war ganz vergessen über der Aufregung, dass ihre Tochter schon bald in die illustre Gesellschaft von Nob Hill aufgenommen werden sollte. Lilly hoffte nur, dass der Wirbel ihre zarte Mutter nicht allzu sehr mitnahm und letztendlich wieder zu einer schlaflosen Nacht für sie beide führte.
Mrs. Garvey schaute neugierig auf die Einladung, die nun auf dem Tischchen vor dem
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