HISTORICAL EXCLUSIV Band 21
den abgetragenen Hut tief ins Gesicht gezogen und hielt eine Flasche Whiskey in der Hand. Welches Spiel trieb Deegan Galloway?
Seit dem Zwischenfall in England, wo sie für kurze Zeit zusammengearbeitet hatten, um einen Dieb zu schnappen, hatte er Deegan für einen anständigen und gesetzestreuen Bürger gehalten. Blackhawk jedenfalls traute dem Kerl und überließ ihm sogar die Leitung der San-Francisco-Branche seines weit verzweigten Imperiums. Die Geschäftsinteressen des Barons lagen bestimmt nicht in Barbary Coast, und doch trieb sich Mr. Galloway in geliehener Kleidung hier herum.
Wäre dieser verwandelte Betrüger ihm überhaupt aufgefallen, wenn er nicht so demonstrativ seine Kamera dorthin gerichtet hätte, wohin Farlong gelaufen war? Wahrscheinlich nicht, vermutete Finley. Die Beute, die er jagte, war deutlich größer als ein kleiner Betrüger wie Galloway. Das hoffte er zumindest. Denn Finley mochte Deegan Galloway. Oder Digger O’Rourke. Oder wie auch immer er sich zurzeit nannte.
Er trank einen Schluck aus der Flasche und nutzte die Gelegenheit, mit den Blicken die Umgebung abzusuchen. Einen kurzen Moment wünschte er, es würde sich tatsächlich Whiskey und nicht schaler, kalter Tee in der Flasche befinden. Der Januar war kein Monat, in dem es besonders angenehm war, auf der Straße zu arbeiten – vor allem dann nicht, wenn man so vorsichtig wie diesmal vorgehen musste.
Vorn an der Ecke war Reverend Isham gerade dabei, wieder seine Kiste aufzubauen, um von dort herab seine Predigt halten zu können. Aus den Dutzenden der nahe gelegenen Saloons ertönten die Klänge missgestimmter Klaviere, von Fiedeln und Banjos, und verführten die Vorübereilenden zu einem kurzen oder auch längeren Besuch.
Finley hatte das alles schon oft gesehen. Er hatte sich dazu gebracht, gegen den Anblick des Lebens in Barbary Coast gewappnet zu sein und nichts an sich heranzulassen. Schließlich war er hier, um ein anderes, höheres Ziel zu verfolgen.
Das glaubte er wenigstens.
Lilly ging in Gedanken versunken zum Salon zurück. Sie fächelte sich mit der Einladung, die Mr. Abbot ihr schließlich doch noch in die Hand gedrückt hatte, Luft zu. Diesen Besuch hatte sie eindeutig Deegan Galloway zu verdanken, doch begriff sie nicht, warum er seine Freunde dazu überredet hatte, sie einzuladen. Vielleicht um sie, Lilly, zu beeindrucken?
Aber weshalb sollte er so etwas tun? Sie gehörte nicht derselben gesellschaftlichen Schicht an, wusste nicht, was sich dort schickte und worüber man sprach. Von der finanziellen Lage ihrer Familie ganz zu schweigen. Es würde ihr schwerfallen, auf der Stelle zwanzig Dollar zusammenzukratzen, die ihr gehörten. Wenn ihre Eltern einmal nicht mehr lebten, würden ihre bescheidenen Ersparnisse zu ungleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt werden, wobei Edmund als der Sohn den größten Anteil bekäme.
Es gab keinen ersichtlichen Grund, warum ein Gentleman wie Mr. Galloway an einer weiteren Bekanntschaft mit ihr interessiert war, und noch viel weniger Gründe, sie seinen einflussreichen Freunden vorzustellen.
„Wer war dieser Herr an der Tür?“, fragte Lillys Mutter.
„Was wollte er hier?“, erkundigte sich ihr Vater. „Nach deinem finsteren Blick zu urteilen, war es nichts Angenehmes.“
Lilly schob ihre Überlegungen beiseite und setzte sich für einen Moment auf das Sofa neben den Rollstuhl ihrer Mutter. „Doch, es war etwas durchaus Angenehmes. Oder sollte es jedenfalls sein.“
„Aha, sehr geheimnisvoll“, sagte ihr Vater höchst zufrieden.
Da ihre beiden Eltern inzwischen durch Krankheit ans Haus gebunden waren, gab es nicht sehr viel Abwechslung in ihrem täglichen Leben. Es war also nur allzu verständlich, dass sie angetan waren, wenn Fortuna hintereinander gleich zwei attraktive junge Männer vor ihre Tür geführt hatte, die sich für Lilly interessierten.
„Sag uns doch, was er wollte“,drängte ihr Vater sie voll Neugierde.
Sie nahm sich vor, in Zukunft mehr Besucher nach Hause zu bringen. Irgendwie brauchten ihre Eltern mehr Unterhaltung. Vielleicht konnte sie auch Edmund fragen, wie sie das Leben ihrer Eltern wieder aufregender gestalten konnte. Doch im Augenblick war es wichtiger, ihrer Verpflichtung der toten Belle gegenüber nachzukommen.
Zuerst jedoch musste sich Lilly in all den ungewöhnlichen Ereignissen zurechtfinden, die in den letzten zwei Tagen ihr Leben verändert hatten. Dazu gehörten auch der außergewöhnliche Besuch und das verwirrend
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