HISTORICAL EXCLUSIV Band 23
lauter Tränen nichts mehr sehen konnte. Er zupfte beharrlich am Saum ihres Gewandes, bis sie sich ihm zuwandte, erfüllt von Entsetzen und Zorn.
„Aber Gilles, wir können doch nicht zulassen, dass …“ Sie schluchzte bitterlich.
„Madame, nichts, was wir tun könnten, würde das Gemetzel dort draußen aufhalten“, sagte er ernst und zuckte zusammen, als ein hoher Schrei vom Wind in ihr Versteck getragen wurde. „Uns würde lediglich das gleiche Schicksal treffen. Wir können jetzt nichts anderes tun als hoffen, nicht entdeckt zu werden, bis ihr Blutdurst gestillt ist. Wenn wir in unserem Versteck bleiben, haben wir vielleicht eine Möglichkeit zu überleben.“
Elise de Vire kauerte sich in eine Ecke der kleinen Speisekammer, in der sich der vertraute Geruch von Brot, Mehl und trocknenden Äpfeln mit dem Brandgeruch von draußen mischte. Sie musste von Sinnen gewesen sein, die langweilige Geborgenheit des de Vire-Haushalts zu verlassen. Hier würde sie sterben, entweder wenn das Haus mit brennendem Werg in Flammen gesetzt würde oder wenn irgendein verfluchter Engländer sie fand. Sie würde sterben, ohne auch nur das Geringste für die Freiheit Frankreichs getan zu haben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht zu glauben, ein Werkzeug zur Errettung ihres Landes sein zu können?
„Sie werden uns finden, sobald sie der leichten Beute überdrüssig werden“, sagte sie. „Ich glaube nicht, dass der Herzog von Burgund etwas wie das hier vorausgesehen hat, als er mich herschickte, meinst du nicht auch?“ Ihr Lachen klang brüchig und etwas überreizt.
„Nein. Bis jetzt hat der englische König bei ehrenhafter Kapitulation immer Gnade gewährt und verfügt, dass keine Bürger verletzt werden sollen. Aber, erinnert Euch daran, Madame, dass ich …“
„Ja, ich weiß, du hast versucht, mir Burgunds Plan auszureden“, ergänzte Elise müde. „Ach, Gilles, ich hätte dir nicht erlauben dürfen, mit mir zu kommen. Ich habe nie bedacht, dass mein Wunsch nach Rache auch deinen Tod zur Folge haben könnte, mein Freund.“
„Madame, Ihr dürft nicht aufgeben!“ Der Zwerg berührte unbeholfen ihre Schulter. „Der Chevalier Aimeri hätte nicht gewollt, dass Ihr jetzt den Mut verliert!“
Elise lachte kurz auf. „Mein verstorbener Gemahl würde fragen, wie ich dazu komme, mich in eine solche Gefahr zu begeben, anstatt in den Schutz eines Klosters, wenn ich schon nicht in Château de Vire bleiben und mich um Béatrices Kinder kümmern wollte. Ich … ich glaube nicht, dass er mein Bedürfnis verstanden hätte, selbst in den Kampf gegen die verhassten Engländer zu ziehen. Das ist etwas für Männer, würde er gesagt haben.“
Gilles nickte. „Er konnte sich glücklich schätzen, Euch zur Frau zu haben, Madame, auch wenn es nur für so kurze Zeit war.“
Dann hörten sie, wie die Tür des zur Hälfte aus Holz gebauten Hauses aufgestoßen wurde, und diesem Geräusch folgten schwere Stiefeltritte. Elise und Gilles erstarrten in der kleinen Kammer und horchten auf die Schritte, die durch das ganze Haus dröhnten. Sie hörten, wie Möbel umgestoßen und Schränke und Schubladen aufgerissen wurden auf der Suche nach Sachen von Wert. Einer der Eindringlinge rief einem anderen etwas in der rauen, gutturalen Sprache der Engländer zu.
Die Schritte kamen näher.
So muss sich eine Feldmaus fühlen, die in der Dunkelheit die Flügel einer jagenden Eule über sich hört und weiß, dass sie gleich entdeckt und von scharfen Krallen ergriffen werden wird, dachte Elise.
Plötzlich drang helles Licht in die dunkle Speisekammer, als die Tür aufgerissen wurde.
Die Schreie hatten aufgehört, und jetzt herrschte auf dem Marktplatz eine unheimliche Stille, nur unterbrochen von dem dann und wann hörbaren Weinen eines verlassenen Kindes. Die Luft auf dem Platz war schwer vom Gestank des Rauches und des Blutes, das den Rinnstein entlang floss. Fliegen umschwärmten bereits die toten Franzosen.
Die Ile St. Jean, der neuere Teil von Caen, war erst vor wenigen Stunden den Engländern in die Hände gefallen, nachdem König Henry beschlossen hatte, seinen Angriff auf diesen Stadtteil zu verlagern. Drei Wochen lang hatten sie die Altstadt belagert, die hoch oben auf einem Hügel lag und von dickeren Mauern und der gut bemannten Zitadelle geschützt wurde. Nun hatten die Engländer gleichzeitig von Osten und von Westen angegriffen, waren durch die bald in die Mauer der Neustadt geschlagenen Breschen geströmt und hatten sich
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