Historical Exclusiv Band 44
gewährten. Bis sie zum Herrenhaus zurückkehrte, war es Mittag, aber der Himmel hatte sich so verfinstert, als ob es spät am Abend wäre. Sie würde die nächsten Stunden daheimbleiben müssen, und das bedeutete, dass sie sich ihrem Gast widmen konnte. Schon der Gedanke an ein weiteres intimes Zusammensein mit Anthony ließ ihr Herz schneller schlagen.
Sarah kam gerade rechtzeitig zu Hause an, bevor der Sturm einen heftigen eisigen Regen vom Meer her über das Land peitschte.
Sie begegnete ihrem Onkel, der aus seiner Bibliothek kam. „Ah, da seid Ihr ja, Sarah. Wir haben uns Euretwegen schon Sorgen gemacht. Vor allem unser Gast war sehr beunruhigt über Euren Verbleib. Er schlich betrübt durch das Haus wie ein im Käfig eingesperrter Tiger und suchte Euch überall.“
Thomas schmunzelte und ging seiner Nichte entgegen, um ihr den nassen Umhang abzunehmen. „Ich hatte heute Vormittag das Bedürfnis nach einem Spaziergang“, erklärte Sarah.
Das klang wenig überzeugend, aber ihr Onkel schien sich nichts weiter dabei zu denken und fuhr unbeirrt fort: „Ich habe Lord Rutledge erzählt, dass Ihr seit Eurer Kindheit diese Klippen wie eine Bergziege hinauf- und hinuntergeklettert seid. Ihr und Jack, aber natürlich habe ich Euren Bruder nicht erwähnt. Doch ich denke, Sarah, es ist an der Zeit, dass wir Lord Rutledge über diesen Punkt aufklären. Ihr glaubt doch sicher auch nicht mehr, dass er für Euren Bruder noch gefährlich werden könnte?“
Sarah streifte ihre ziegenledernen Handschuhe von den kalten Fingern ab und reichte sie ihrem Onkel zusammen mit dem Umhang. Sie hatte heute Morgen zu diesem Thema eine ähnliche Einstellung wie ihr Onkel gefunden, aber sie war sich nicht sicher, wie sie Anthony die Angelegenheit nahebringen sollte. Sie wollte nicht, dass er den Eindruck gewann, sie würde ihm immer wieder Lügen auftischen, zumal es einige Dinge gab, die sie auch jetzt noch vor ihm verbergen musste.
„Ich will bald mit Lord Rutledge über meinen Bruder sprechen, Onkel. Aber ich möchte es lieber selbst tun, wenn es Euch recht ist.“
„Damit bin ich einverstanden. Ich fühle mich nur nicht wohl dabei, wenn ich dem Mann Theater vorspielen muss. Er scheint mir nämlich ein anständiger Kerl zu sein. Und ich glaube, er hat ein Auge auf Euch geworfen, Sarah. Das wäre eine sehr gute Partie für Euch, Sarah. Ja, wirklich.“
Sarah hatte sich über sich selbst geärgert, weil ihr schon genau derselbe Gedanke gekommen war. Deshalb antwortete sie heftiger, als sie eigentlich beabsichtigte: „Macht Euch nicht lustig über mich, Onkel! Was für eine lächerliche Vorstellung! Lord Rutledge ist ein vollendeter Kavalier. Seine Umgangsformen begründen sich auf purer Höflichkeit. Bald wird er wieder nach London zurückkehren und uns schnell vergessen haben.“
„Ich wäre mir darüber nicht so sicher.“ Ihr Onkel schüttelte den Kopf. „Seine Besorgnis heute Morgen schien mir echt.“
„Er vertritt nicht einmal unseren Glauben, Onkel Thomas. Er ist kein Puritaner.“
„Schon gut.“ Sir Thomas fuhr sich nachdenklich durch den grauen Spitzbart. „Ich habe nie gedacht, dass es jemals so weit kommen würde, aber heutzutage scheint die Frage der Religionszugehörigkeit nicht mehr bedeutsam zu sein wie früher in diesem Land. Es gibt eines, wofür wir dem König zu danken haben – und das ist die neue Toleranz, die in England herrscht. Er hat recht mit seiner Ansicht, dass die Religion eines Menschen nicht allein seinen Charakter bestimmt.“
Sarah war verblüfft. Nachdem die Familie Fairfax so sehr für die puritanische Sache gekämpft und ihr so viele Opfer gebracht hatte, hätte sie diese Einstellung von ihrem Onkel nie erwartet.
„Aber, Onkel“, begann sie.
„Nein, hört zu, was ich Euch zu sagen habe, Sarah. Der Mann ist in Euch verliebt, und wenn Ihr ebenfalls Zuneigung für ihn empfindet, sehe ich keinen Grund, warum Ihr diese Verbindung nicht eingehen solltet. Zuerst aber denke ich, tätet Ihr gut daran, diese Sache zu bereinigen und Lord Rutledge die Wahrheit zu sagen.“
„Die Wahrheit worüber?“ Eine Stimme kam von der Treppe und erschreckte sie beide.
Sir Thomas sah seine Nichte an, die ihn mit einem Blick wissen ließ, dass sie die Angelegenheit selbst regeln wollte. „Ach, über meine Nichte hier“, meinte Sir Thomas deshalb laut, „und über ihre schreckliche Angewohnheit, sich auch beim rauesten Wetter vor die Tür zu wagen. Sie ist fast erfroren und obendrein völlig
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